Kapitel 1

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Kann dieser Tag noch schlimmer werden? In meinem Kopf hackt eine Mannschaft Holzfäller Baumstämme in Streichhölzer klein, meine Augen schmerzen. Die Wörter auf dem Bildschirm beginnen zu flimmern. Draußen ist es kalt und dunkel und mein Boss hat mir gerade mitgeteilt, dass ich heute Überstunden machen muss. Denn unser Kunde möchte das Layout für seine neue Website bereits morgen auf dem Tisch haben. Und ich möchte einfach nur nach Hause. Eine Portion Pasta und ein Glas Wein, mein Bett und etwas Schlaf. Wie jeden Abend. Aber dieser Wunsch rückt gerade in weite Ferne.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, lasse mich leicht nach hinten fallen und schließe meine Augen. Mit kreisenden Bewegungen massiere ich meine Schläfen, es verschafft eine leichte Linderung meiner Schmerzen. An Tagen wie diesen bin ich froh Single zu sein. So muss ich meinem Partner nicht die Illusion von einem romantischen Abendessen zu zweit und anschließendem gemütlichen Fernsehabend rauben.

Meine Tage verlaufen immer nach dem gleichen Muster. Ich wache auf, gehe ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Allein. Während das warme Wasser über meinen Körper läuft, bilden sich in den Dampfschwaden die Umrisse eines Mannes. Sie sind verschwommen, existieren nur in meiner Vorstellungskraft. Und doch sind sie immer gleich. In meiner Vorstellung flüstert er Worte in mein Ohr, seine Lippen berühren leicht mein Ohrläppchen und ich spüre das feine Kitzeln seines Atems an meinem Hals. Starke Hände gleiten über meinen Körper, sanft berühren Fingerspitzen meine erhitzte Haut, ziehen eine Bahn von den Schultern über die Brust, hinab zu meinem Bauch. Sanfte Küsse in meinen Nacken, gehaucht, leicht, sinnlich. Ich stelle mir vor, wie sein Körper gegen meinen drückt. Fordernd, aber auch sanft. Mit kreisenden Bewegungen seines Beckens treibt er meine Lust voran.

Worte in meinem Kopf, ohne Stimme. Bilder in meinem Kopf, ohne Ziel. Ein Gefühl von Freiheit, unbeschwert und leicht. Der Pfad der Erlösung direkt vor mir komme ich mit einem Namen auf meinen Lippen der mich immer wieder überrascht. Der restliche Akt des Duschen ist Routine. Einseifen, verreiben, abspülen. Mit nasser Haut und tropfenden Haaren putze ich meine Zähne. Der Spiegel offenbart mir das Gesicht eines Mannes mit blauen Augen, strahlend wie der Ozean und Haaren so schwarz wie die Seele des Dämonenfürsten aus den Albträumen meiner Kindheit.

Das Frühstück ist immer gleich. Schwarzer Kaffee, eine Schale Müsli mit Früchten und die Zeitung. Ich lese jeden Morgen die Zeitung. Eine richtige, echte Zeitung. Gedruckt auf Papier, mit kleinen schwarzen Buchstaben und großen fetten Lettern, die mir das Neueste aus der Welt berichten. Die Druckerschwärze an meinen Händen lässt mich immer etwas melancholisch werden. Es war schon immer das Ritual meiner Eltern sich am Frühstückstisch die Zeitung zu teilen. Dad begann immer mit dem Sportteil und Mum mit den Lokalnachrichten. Das ist noch heute so.

Auf dem Weg zur Arbeit quetsche ich mich mit tausenden anderen Leuten in die New Yorker U-Bahn. Es kostet mich jeden Morgen etwas Kraft. Viele Menschen auf engem Raum behagen mir nicht. Aber da ich nicht gerne mit dem Auto fahre und der New Yorker Verkehr die Hölle ist, nehme ich diese Hürde auf mich.

Ich benutze ungern Aufzüge, die Treppe ist mein Freund. Jeden Tag erklimme ich die Stufen in den sechsten Stock. Meine Beine sind gut trainiert und dieses tägliche kleine Sportprogramm trägt auch zu meiner allgemeinen Fitness bei. An den Wochenenden gehe ich Laufen im Central Park oder Schwimmen mit meinem Freund aus Kindheitstagen. Es ist der einzige Tag der Woche an dem ich mich frei fühle. Bei ihm bin ich nicht Ashton der schüchterne Junge aus der hintersten Reihe mit den zu langen Beinen und immer einen Kopf größer als alle anderen. Bei ihm bin ich einfach Ashton. Sein Freund aus Kindheitstagen.

Meine Schwester hat so oft versucht mich an einen Kerl den sie in Clubs oder ihrer Arbeit, in der Bar ihres Freundes, kennenlernte zu vermitteln. Ich war auch auf ein paar Dates. Aber entweder wollten die Männer nur ein schnelles Abenteuer, oder sie kamen mit meiner schüchternen Art nicht zurecht. Denn seien wir doch mal ehrlich. Schwule Männer sind hormongesteuert. Sie wollen nicht den netten Kerl von nebenan der ihnen die Sterne vom Himmel holt. Sie wollen den Bad Boy, der sie im Club am Kragen packt, in die nächste schummrige Ecke zieht und ihnen das Hirn raus vögelt.

Meine sexuellen Erfahrungen beschränken sich auf ein paar wenige Blowjobs und ein einziges Mal Sex. Der Glückliche für meine Entjungferung war mein Freund auf dem College. Andrew. Noch heute denke ich daran was hätte sein können und wie es war. Wäre nicht meine Schüchternheit gewesen. Mein Kindheitsfreund ist der Meinung, dass Andrew nicht der Richtige gewesen ist. Julian ist ein Romantiker vor dem Herrn. Er trägt seine Frau auf Händen und legt ihr die Welt zu Füßen. Er glaubt an die einzig wahre Liebe. Und auch daran, dass eines Tages ein Mann in mein Leben treten wird, der die Ketten um meine Seele sprengt. Ein Mann der unerwartet in mein Leben tritt und meine Welt verändert.

Und an manchen Tagen denke ich, dass er Recht hat mit dem, was er sagt. Denn wirklich unerwartet trat er in mein Leben. Copperfield. Eine fehlgeleitete Nachricht vor sechs Monaten brachte uns zusammen. Ich kenne ihn nicht. Und doch ist er mir so nah wie kein anderer. Er weiß Dinge über mich, die ich niemanden sonst erzählt habe. Meine Ängste und Sehnsüchte. Meine Gefühle und Gedanken. Mit ihm kann ich reden. Oder eher gesagt, schreiben. Bei Copperfield bin ich nicht schüchtern. Ich bin Ashton, schreibe frei und ungezwungen, offen und ehrlich. Es überrascht mich jeden Tag aufs Neue. Und jeden Tag warte ich mit Spannung auf seine Nachricht des Tages. Er ist ein Fremder. Aber er ist mein Fremder. Er ist Copperfield.

Das Vibrieren meines Telefons holt mich aus meinen Gedanken. Die Kopfschmerzen verschwinden und die Überstunden sind nicht mehr von Belang.

Hallo mein Hübscher.
Wie war dein Tag? Ich hoffe gut und du bist zuhause. Denn ich bin noch unterwegs. In einem überfüllten stinkenden Zug und versuche gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Der Termin war gut, der Kunde zufrieden. Aber Chicago war kalt. Sehr kalt. Ich mag die Kälte nicht. Oder den Winter. Ich mag auch keinen Schnee. Es ist mir schlichtweg zu kalt. Und ich habe die Befürchtung, dass mich zuhause die gleiche Kälte erwartet. Also RobinHood, erzähle mir von deinem Tag.
Copperfield

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht lese ich seine Nachricht. Ich mag den Winter auch nicht. Zu kalt und zu nass. Mein Tag ist doch nicht so schlimm wie gedacht. Er endet gut. Sogar sehr gut.

because love knows no boundariesWhere stories live. Discover now