Kapitel 2

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Mein lieber Copperfield.
Hübscher? Seit wann nennst du mich Hübscher? Aber gut. Ich sehe es als Kompliment. Auch wenn du nicht weißt, wie ich aussehe. Vielleicht bin hässlich und habe einen Buckel. Vielleicht bin ich aber auch grazil wie eine Elfe. Wer weiß das schon?

Was dich zuhause erwartet weiß ich nicht. Ich kann dir aber sagen was mich erwartet, wenn ich aus dem Haus und auf die Straße trete. Kälte, Dunkelheit, Regen. Ich mag den Winter auch nicht. Wer hat schon freiwillig Halsschmerzen und eine rote Nase wie Frosti der Schneemann?

Du willst wissen wie mein Tag war? Bis gerade eben war er schrecklich. Mein Chef hat mich zu Überstunden verdonnert, ich sitze also noch mindestens zwei Stunden im Büro fest. Dabei möchte ich nur nach Hause. Heute ist kein guter Tag. Aber deine Nachricht hat mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Denn du bist eindeutig mieser dran als ich. Warum? Das erzähle ich dir, wenn ich auf dem Weg nach Hause bin.

Bleib wach. Beobachte die Menschen, das hilft. RobinHood

Zwei Stunden später speichere ich die letzten Änderungen und verfasse eine sarkastische E-Mail an meinen Chef. Okay sie ist nicht sarkastisch. Neutral und geschäftig. Aber in meinen Gedanken steht da etwas anderes. Schon oft habe ich mir gewünscht einfach das sagen zu können, was ich denke. Aber wenn es dann so weit ist, versagt meine Stimme, ich fange an zu schwitzen und mein Kopf bekommt eine schöne leuchtend rote Farbe.

Bei Copperfield ist das anders. Wir haben nächtelang Diskussionen über das für und wider von Buchverfilmungen geführt. Oder wie manche Leute auf die Idee kommen, Fallschirmspringen wäre ein wunderbarer Adrenalinkick. Er erzählte mir, dass er Höhenangst hat, und ich erzählte ihm von meiner Angst vor Spinnen. Das machen wir eigentlich immer so. Einer von uns beiden erzählt etwas über sich und der andere springt mit rein.

"Blau statt rot?" Die Stimme nah an meinem Ohr lässt mich zusammenzucken. Fuck was macht sie noch hier?
"Habe ich dich erschreckt?", fragt sie und setzt sich auf die Kante meines Schreibtisches. Ihre überschlagenen Beine stecken in einer hauchdünnen Nylonstrumpfhose und ihr Rock ist definitiv zu kurz für diese Jahreszeit. Die weiße Bluse spannt sich verdächtig über ihre prallen Brüste und ich bete inständig, dass sie nicht zu stark ausatmet. Denn ich habe die Befürchtung, dass die Knöpfe ihrer Bluse diesem Druck nicht Stand halten werden.

Sie wickelt eine Strähne ihrer blonden Haare um den Zeigefinger und grinst mich dabei lüstern an. Dieses Verhalten kenne ich von Frauen. Oft habe ich es beobachtet. Meine Schwester ist ein Musterbeispiel, wenn es darum geht Männer mit solchen Verführungstricks um den Verstand zu bringen. Oft habe ich sie dabei beobachtet, wie sie genau diese Art bei ihrem Chef angewandt hat. Und es hat sich gelohnt. Seit zwei Jahren sind Elijah und Stacey bereits ein Paar. Bei mir funktioniert diese Taktik allerdings nicht. Allerdings bin ich auch zu schüchtern meine Kollegin darauf hinzuweisen.

"Ja", antworte ich auf ihre Frage. "Ja was? Wegen der Farbe oder das ich dich erschreckt habe?" Ihre Anwesenheit macht mich nervös. Sie ist mir zu nahe und der Geruch ihres schweren Parfums bereitet mir Kopfschmerzen. Dabei waren sie gerade erst verschwunden. Wegen ihm.
"Blau passt besser." Das sie mich erschreckt hat muss sie nicht wissen. Ich beginne damit meine Sachen zusammen zu packen. Sie macht keine Anstalten meinen Arbeitsplatz zu verlassen. Es frustriert mich. Denn ich möchte meine Ruhe, nach Hause fahren, etwas essen und schlafen.

"Kommst du noch mit ins Pearl Harvest? Ein paar andere gehen auch. Und ich dachte mir da du noch hier bist..." Sie redet nicht weiter und ich unterbreche meine Tätigkeit um sie anzuschauen. Ihre Finger streichen über meinen Unterarm, ich blicke auf ihre langen rotlackierten Fingernägel und ein Schauer durchfährt mich. Aber nicht dieser wohlige Schauer, der sich auf deinen Körper legt, wenn dich der Richtige berührt. Sondern der Schauer, wenn du spürst, dass das hier gerade nicht richtig ist. Ich möchte ihr sagen das es mir unangenehm ist, wenn sie mich berührt. Aber ich schaffe es nicht.

Stattdessen schüttele ich meinen Kopf und murmele eine Entschuldigung. Die Worte müde und Hunger mischen sich noch unter mein Gemurmel. Sie springt genervt von meinem Schreibtisch und ich sehe, dass sie die Unterlagen für meinen Chef mit ihrem Hinterteil zerknittert hat. Frustriert stöhne ich auf und versuche den Schaden etwas zu glätten. Ich bin ein Ordnungstyp und Dokumente in solch einem Zustand zu übergeben, gehört nicht zu meiner Art. Also nehme ich mir vor, morgen eine halbe Stunde früher als sonst ins Büro zu fahren.

Gedanklich sage ich ihr gerade die Meinung über ihr unmögliches Verhalten. Aber ich schweige. Und verlasse ebenso schweigend meinen Arbeitsplatz. Ein allgemeines 'Schönen Abend noch' in die Runde verabschiedet mich, wie jeden Tag. In der Firma bin ich als der ruhige verschlossene Nerd bekannt. Ich bin jeden Tag pünktlich im Büro und erledige meine Arbeit. In der Mittagspause telefoniere ich oft mit meiner Schwester oder sitze im nahe gelegenen Park auf einer Bank und beobachte die Mütter und Kindermädchen dabei, wie sie Tränen trocknen und Apfelschnitze verteilen, Wunden versorgen und lachende kleine Menschen auf der Schaukel den Wolken immer näherbringen.

Das erinnert mich immer an früher, an unsere Kindheit. Stacey und ich im Park. Lachend auf der Rutsche oder raufend auf der Wiese. Julian der versuchte mich im Sandburgenbauen zu schlagen und immer die höchsten Bäume erklimmen wollte. Damals war ich noch anders. Bevor mein Wesen sich veränderte und ich mich in meine Welt zurückzog. Meine Eltern sagen immer, dass ich als Kind bereits schüchtern und zurückhaltend war. Nur bei Stacey und Julian war ich anders. Und bei ihm. Copp.

Auf dem Weg in die U-Bahn schlägt mir der kalte Wind entgegen und leichter Nieselregen benetzt meine Haare mit einem nassen Film. Den Kragen meines Mantels schlage ich hoch und beeile mich diesem trüben Wetter zu entfliehen. Da es bereits spät ist, komme ich sogar in den Luxus eines Sitzplatzes. Die Kopfschmerzen sind wieder da und mein Magen macht sich lautstark bemerkbar. Heute ist nicht mein Tag.

Ein Nachrichtenton erweckt meine Aufmerksamkeit. Es ist meiner. Und ohne auf das Display zu schauen, weiß ich, dass es eine Nachricht von meinem Fremden ist. Ich habe bereits ein Lächeln auf dem Gesicht noch bevor meine Finger das Telefon umschließen. Und schlagartig ändert sich meine Laune.

Hübscher, das war eine mega gute Idee von dir. Warum habe ich das nicht schon früher gemacht? Das ist so viel besser als aus dem Fenster zu blicken und dem 1.748.439sten Baum am Vorbeiziehen zuzuschauen. Ich habe gerade eine alte Dame gesehen, die voller Stolz Fotos ihrer Enkelkinder gezeigt hat. Einem Fremden. Stell dir das vor. Ein Fremder.

Und die letzte halbe Stunde habe ich der Mutter hinter mir dabei zugehört, wie sie ihrem Sohn eine Geschichte vorgelesen hat. Leider musste sie schon aussteigen. Und jetzt weiß ich nicht, ob der kleine Wolf mit den goldenen Augen wieder nach Hause zu seinem Rudel findet.

RobinHood was ist los? Warum war dein Tag schlecht? Möchtest du es mir erzählen?
Dein leicht frustrierter Copperfield

Ich schmunzele als ich seine Nachricht lese, dass Buch glaube ich zu kennen. Der Wolf mit den goldenen Augen war mein Lieblingsbuch in meiner Kindheit. Wenn ich das nächste Mal zu meinen Eltern fahre, werde ich mein Exemplar mitnehmen und ihm ein Foto von den noch fehlenden Seiten schicken. Und ich hoffe, dass er sich darüber freut.

because love knows no boundariesHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin