Kapitel 9

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Ich liebe meine Schwester. Wirklich. Ich liebe meine Schwester. Stacey ist, neben Julian, meine Vertraute. Aber gerade stelle ich mir die Frage, warum ich mich immer von ihrem Hundeblick erweichen lasse. Clara hatte letzte Woche Geburtstag und diesen haben wir bereits in kleiner Runde gefeiert. Julian und Clara, Elijah mit Stacey und ich.

Diese Feier hier zu Claras Geburtstag sprengt eindeutig den Rahmen meiner emotionalen Grenze. Zu viele Menschen. Zu laute Musik. Zu viele Stimmen die alle durcheinander reden. Zu viele verschiedene Töne. Schrill, tief, melodisch, erdig, klangvoll, alt, jung.
Das Elternhauses meines Kindheitsfreundes, welches er nach dem Tod seiner Eltern erbte, ist bis unter das Dach gefüllt mit Menschen. Dem ist nicht so, aber für mich fühlt es sich so an. Clara erzählte einmal, dass sie in der Schule beliebt war, und es wundert mich nicht. Sie hat ein großes Herz, Liebe für alle und jeden. Immer ein Lachen und einen Ratschlag, wenn man selbst am Verzweifeln ist. Clara ist ein guter Mensch und ich mochte sie von Anfang an.

Aber gerade überfordert mich das Ganze hier. Clara hat noch immer Kontakt zu vielen Leuten aus ihrer Schulzeit. Ebenso Julian. Und diese Masse an Menschen, hat sich heute Abend hier versammelt, um mit Clara zu feiern. Ich gehöre anscheinend auch dazu und ich wünsche mir nichts sehnlicher als zu verschwinden. Aber nachdem Clara mich so überschwänglich begrüßt hat und mir sagte, wie sehr sie sich freut das ich hier bin, ergebe ich mich meinem Schicksal.

Ich bleibe und versuche meine aufkeimende Angst gepaart mit einem Schwung Unsicherheit zu unterdrücken. Ablenkung. Ich brauche Ablenkung. Also hole ich mir ein Getränk und stelle mich abseits der feiernden Massen. Mit dem Rücken an eine Wand gelehnt beobachte ich das Schauspiel um mich herum. Clara und Julian sind vertieft in Gespräche mit verschiedenen Leuten, meine Schwester mit den Händen wild gestikulierend. Sie spricht mit einem jungen Mann und ich erkenne ihn. Jesse. Jesse Park.

Ich habe gerade ein Deja-Vu aus einer längst vergessenen Zeit. Ein Sportplatz, Football, ein heißer Sommertag und Jesse Park verschwitzt ohne Shirt. Ich der sabbernd auf der Zuschauertribüne saß und Stacey in ihrem Cheerleader Outfit, welche mich interessiert dabei beobachtete, wie ich Jesse Park mit meinen Blicke weiter auszog. An diesem Tag kam Stacey nach dem Abendessen in mein Zimmer und sprach einfach frei heraus ein mir bis dahin unangenehmes Thema an.

Es war der Abend meines Outings. Eine tonnenschwere Last fiel von meinen Schultern und ich war nie erleichterter als in diesem Moment, dass Stacey mich immer verstand. Am Tag danach sprachen wir zusammen mit Julian. Ich hatte große Angst vor seiner Reaktion und auch ihn als Freund zu verlieren. Das hätte ich nicht überstanden. Aber Julian ist halt Julian. Er winkte die Information einfach ab und erzählte uns, dass er schon länger den Verdacht hatte, dass ich auf Männer stand. Er nahm mich in den Arm und gab mir einen leichten Kuss auf die Wange. Er versicherte mir, dass es nichts an unserer Freundschaft ändern würde. Und so war es auch.

Julian war und ist noch immer mein bester Freund. Ein Freund mit dem ich immer über alles reden konnte. Aber eine Sache habe ich ihm nie erzählt. Jesse bemerkte meine Blicke. Und er interpretierte sie genau richtig. Ich schwärmte schon länger für ihn und eines Tages sprach er mich an. Er lud mich auf ein Date ein. Mich. Den schüchternen zu groß geratenen Kerl aus der hinteren Reihe. Panisch lief ich weg und ließ Jesse verwirrt stehen. Julian sah das und machte ein Treffen klar. Ich ging mit Jesse in ein Diner, bestellte Burger und Schokomilchshake. Jesse redete und ich schwieg.

Mit hochrotem Kopf und zittrigen Händen versuchte ich nur halb so trottelig zu wirken, wie ich mich fühlte. Der Abend war in meinen Augen ein Desaster. Und das eigentliche Desaster kam erst noch. Jesse brachte mich nach Hause und bevor ich ein 'Es war nett. Danke für den schönen Abend.' über die Lippen brachte, knallten seine Lippen hart auf die meinen. Ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl. Ich war sechszehn Jahre alt, jung, ungeküsst, schüchtern. Seine Lippen bewegten sich fordernd auf meinen. Aber anstatt diesen Moment zu genießen, ihn in vollen Zügen auszukosten, erstarrte ich.

Lange hatte ich mir diesen Augenblick immer vorgestellt. Hatte mir in den schönsten Farben ausgemalt, wie es sich anfühlte. Aber es war so anders. Statt warmer weicher Lippen war da kalte Feuchte und eine liebevolle Umarmung wurde ersetzt durch ein starkes an die Wand pressen. Der Abend war ein Reinfall und Jesse beschimpfte mich. Ich ließ ihn einfach auf den Stufen vor unserem Haus stehen und rannte zu Julian. Ohne nervige Fragen konnte ich an seiner Schulter weinen. Er verstand, was ich ihm damit sagen wollte. Das Thema Dates war für mich vom Tisch. Bis Stacey mir Andrew vorstellte.

Julian erteilte Jesse die Standpauke seines Lebens und ich glaube, auch eine Faust war daran beteiligt. Ich lasse die Gedanken an Jesse hinter mir. Mein Blick schweift durch den Raum. Einige Leute kenne ich von früher, einige sind mir fremd. Aber eine Frau erregt meine Aufmerksamkeit. Ich erkenne sie. Es ist die Frau aus dem Pearls Harvest und neben ihr steht der gleiche Mann. Sein Rücken ist mir zugewandt. Der Oberkörper bebt leicht. Ich vermute, dass er gerade lacht. Seine breiten Schultern stecken in einem enganliegendem schwarzen Longshirt und der knackige Hintern in einer noch engeren grauen Jeans.

Seine Begleitung sieht kurz zu mir und lächelt freundlich. Noch bevor ich reagieren kann, dreht der unbekannte Mann sich um und blickt direkt in meine Richtung. Ich ziehe scharf die Luft ein und meine Atmung setzt aus. Mein Herz beginnt zu stolpern, es schlägt und dann auch wieder nicht. Es fühlt sich an wie Schluckauf. Ich blicke in die Augen eines wunderschönen Mannes. Er ist eindeutig asiatischer Herkunft und seine Augen funkeln mich verführerisch an.

Seine Haare sind schwarz wie die Nacht und sehen so wunderbar weich und voll aus. Meine Fingerspitzen kribbeln, ich verspüre den Drang meine Hände in seinen Haaren zu vergraben und die Finger wie sanfte Wellen hindurch gleiten zu lassen. Sein Mund mit den vollen rosafarbenen Lippen lächelt mich an. Verlegen wende ich meinen Blick ab und bleibe an seinem Oberkörper hängen.

Harte Muskeln drücken sich durch den dunklen Stoff. Ich habe eindeutige Bilder in meinem Kopf und diese Bilder sind ebenso eindeutig nicht jugendfrei. Geräuschvoll lasse ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen entweichen. Mein Herz hämmert wild in meiner Brust. Es tut schon fast weh, die Anzahl der Schläge hat sich verdreifacht. Adrenalin durchflutet meine Adern, mir ist unsagbar heiß und mein Fluchtinstinkt wird aktiviert.

Ich sehe das der Unbekannte sich über die Lippen leckt. Bei dem Anblick seiner pinkfarbenen Zunge wimmere ich leise und bin froh, dass niemand in meiner Nähe ist um es zu hören. Er reicht seiner Begleitung das Getränk in seinen Händen und kommt auf mich zu. Mein Verstand läuft gerade Amok, er schreit Flucht und ehe ich mich versehe, bin ich auf dem Weg zur Haustür und spüre die Kälte des Winters auf meiner erhitzten Haut.

because love knows no boundariesTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon