Mara und Antonia

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David

Mama steht vor meiner Haustüre, hinter ihr sehe ich Papa und zwei Mädchen, die beide gleich auszusehen scheinen. Am liebsten würde ich die Tür wieder zumachen und sie alle davor stehen lassen, alleine Papas Gegenwart ertrage ich nicht. Ich kann ihm nicht in die Augen schauen, weil ich ihn aufs Übelste hintergehe.

Erst gestern habe ich wieder mit seiner Freundin rumgemacht. Vermutlich bin ich der größte Idiot, der auf dieser Welt herumläuft und ich sollte für Marina und meinen Sohn kämpfen, anstatt sie einfach ziehen zu lassen, aber stattdessen hat es mich direkt in die Arme von Vanessa getrieben. Getrieben ist übrigens ein sehr gutes Wort, es hat nicht lange gedauert, bis Vanessa und ich es wieder getan haben, sie hat mich in einer WG, die ein paar ihrer Freundinnen gehört, empfangen und es ging gleich heiß her. Wieso ich das getan habe, wo ich mich doch sowieso schon schuldig fühle, Marina und Papa betrogen zu haben? Wahrscheinlich weil ich mir ständig versuche einzureden, dass es so okay ist. Ich habe verdammt noch mal eine gute Zeit, wenn ich mit Vanessa schlafe. Alles ist für die paar Minuten im Lot und ich kann endlich wieder kurz durchatmen und den Schmerz in meinem Herzen vergessen.

Ob ich ein Idiot bin? Ganz sicher bin ich das, aber ich verdränge diese Gedanken ganz weit in die hintersten Ecken meines Verstandes. Ob ich mich in Vanessa verknallt habe? Ganz sicher nicht, ich genieße nur die Leichtigkeit und die Unbeschwertheit, die ich fühle, wenn ich sie vögele. Total bescheuert, ich weiß-

Ich schaue zu Mama, versuche Papas Blick zu übergehen und schaue dann die beiden Mädchen an, die jetzt schüchtern in meinem Wohnzimmer stehen und mich ständig anschauen. Die Mädchen haben beide dunkelbraune Haare, die jeweils zu zwei Zöpfen geflochten worden sind und den beiden locker über die Schultern fallen. Beide haben sie die gleichen blaugrauen Augen, die auch ich habe und die wir alle drei von Mama geerbt zu haben scheinen. Eine der Mädchen trägt eine Brille und das ist das einzige Accessoire, das die beiden voneinander unterscheidet. Ansonsten sehen sie exakt gleich aus, sie haben auch beide die selbe schwarze Jeans an und beide den gleichen rosafarbenen Pullover, auf dem jeweils ein Pferdekopf zu sehen ist.

„Wie alt sind die Mädchen"; frage ich Mama schließlich.

Sie schaut mich scheu aus ihren wässrigen Augen an, streicht sich durch die blonden Haare und schaut kurz unsicher zu Papa, der ihren Blick aber nicht lange standhalten kann.

„Wir werden in genau drei Wochen neun Jahre alt"; antworten die Mädchen wie aus der Pistole geschossen und plötzlich scheint ihre Scheuheit wie in Luft aufgelöst.

„Ich heiße übrigens Mara", offenbart das Mädchen mit der Brille und streckt mir grinsend ihre kleine Hand entgegen.

„Und ich heiße Antonia", meldet sich die zweite sofort zu Wort und gemeinsam überwinden sie die letzte Distanz zwischen uns und dann umarmen sie mich. Die Mädchen reichen mir gerade einmal bis etwas über den Bauchnabel, mit meinen 1,88 cm bin ich ziemlich groß und überrage auch Papa seit ich dreizehn bin. Jetzt bin ich froh, dass die Mädels mir nicht bis zum Brustkorb reichen, weil mein Herz wie wild darin pocht. Ich bin furchtbar aufgewühlt und meine Gedanken schweifen zu dem Tag, an dem Mama, Papa und mich für immer verlassen hat.

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Ich stecke den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehe ihn solange in die linke Richtung, bis die Tür aufspringt. Ich bin furchtbar stolz, dass ich jetzt meinen eigenen Hausschlüssel bekommen habe und mit meinen neun Jahren bin ich auch schon alt genug, um verantwortungsvoll damit umgehen zu können.

Ich pfeffere meinen Schulranzen auf den Boden im Flur, mache das selbe mit meinen Schuhen und hänge dann meine Jacke an die Garderobe.

„Maaaama- Ich bin zuhause", schreie ich dann, laufe in die Küche. Der Esstisch ist schon für das Mittagessen gedeckt und mir knurrt der Magen, weil ich furchtbar Hunger habe. Von Mama ist hier aber keine Spur und es riecht auch nicht nach Essen, wie es sonst immer der Fall ist, wenn ich von der Schule nach Hause komme. Hungrig greife ich in die Schublade, in der meine Eltern immer die Süßigkeiten aufbewahren und klaube mir einen Cookie aus der Packung und dann noch einen zweiten. Dann gehe ich ins Wohnzimmer. Irgendwo muss Mama doch sein!

Zuerst sehe ich auch hier niemanden, bis ich ein leises Stöhnen hören kann, das vom Boden vor der Couch kommt. Unsicher bewege ich mich in die Richtung, in meinem Kopf die schlimmsten Szenarien. Was ist, wenn Mama umgefallen ist und jetzt dort verletzt liegt. Mein Herz klopft wild gegen meinen Brustkorb, als ich endlich direkt hinter der Couch stehe und den letzten Schritt um sie herum wage.

Dort auf dem Boden liegt Papa. Was macht er den schon hier, denke ich mir. Normalerweise kommt Papa immer erst am späten Nachmittag nach Hause, wenn er mit der Arbeit fertig ist. Neben Papa liegt eine leere Flasche, etwas von dem roten Inhalt hat sich über den grauen Teppich ergossen, der in der Mitte zwischen der Couch und dem Fernseher liegt. Papa gibt ein erneutes Stöhnen von sich. Ängstlich beuge ich mich ihm entgegen. Sein Atem stinkt fürchterlich und seine Wangen sind nass. Erst jetzt sehe ich die Tränen, die ihm über die Wangen rinnen. Obwohl ich fürchterlich Angst habe, sage ich leise:" Papa, wo ist Mama?" Sie muss ihm jetzt helfen. Ich schaffe es nicht, ihm hoch zu helfen, ich weiß ja nicht mal was Papa hat.

„Mama kommt nicht mehr nach Hause, David", flüstert Papa. Ich muss mich in die Nähe seines Mundes beugen, um ihn verstehen zu können. Was genau meint Papa damit? Ich bleibe unsicher neben Papa sitzen und hoffe nur, dass es ihm bald besser geht. Und das Mama bald kommt.

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„Wirst du Mara und Antonia auch verlassen, wenn du sie satt bist?" Ich stehe jetzt direkt vor Mama, so nahe war ich ihr seit Jahren nicht mehr. Ich kann sogar ihren leisen und doch hektischen Atem spüren, als ich mich so nah zu ihr hinunterbeuge, dass nur sie mich verstehen kann.

Ihr Blick trifft meinen, die blaugrauen Augen, durchbohren mich. Ich könnte schwören, etwas Leid und Trauer in ihnen zu sehen. Für einen Moment komme ich ins Straucheln. Vielleicht bereut Mama es ja, dass sie mich damals verlassen hat. Der Blick aus ihren wässrigen Augen, spricht auf jeden Fall dafür.

Oder?

In Your ArmsWhere stories live. Discover now