Die Wahrheit...

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David

Ich fahre mir mit der linken Hand nervös durch die Haare, meine rechte Hand ist in meiner Hosentasche vergraben. Kaugummikauend warte ich darauf, dass die Haustüre vor der ich gerade stehe, sich endlich öffnet. Mein Herz schlägt so heftig, es fühlt sich an, als würde es mir gleich aus der Brust springen. Ich nehme die angenehme Abendluft in mir auf, ein Zug davon, ein weiterer, bis ich sie wieder ausatme. Zumindest ein bisschen hat das geholfen, mich für einen kurzen Moment zu beruhigen.

„David". Mein Herz sackt mir in die Hose, als ich die eiskalte, aber auch etwas hämische Stimme höre. Ich war auf diesen Moment gefasst, dass dachte ich zumindest. Schließlich habe ich seit Stunden überlegt wie ich mich verhalten soll, wenn es wieder Selina ist, die mich in Empfang nimmt. Aber jetzt sind plötzlich alle diese Worte wie aus meinem Gedächtnis gelöscht und ich fühle mich einfach nur wieder so verdammt klein. Aber ich muss das hier jetzt durchziehen. Ich werde heute nicht davonlaufen, ich muss meiner Frau unbedingt gestehen, dass ich sie betrogen habe. Ich muss damit rechnen, dass ich meine Familie verlieren werde, aber nichts zu unternehmen ist auch keine Lösung, zumindest nicht auf Dauer. Das ziemlich lange Gespräch mit Mama, das wir gestern geführt haben und in dem es unter anderem um den Seitensprung von Papa ging, der damit unsere Familie zerstört hat, hat mich wachgerüttelt. Es tut mir unfassbar weh, dass mein Idol, mein Papa, der für mich immer unfehlbar war, die Familie zerstört hat und Schuld daran ist, dass Mama mich verlassen hat. Das ist aber definitiv ein anderes Thema, das ich mit Papa besprechen muss. Ich realisiere nach und nach, dass ich meinen beiden Elternteilen sehr viel ähnlicher bin, als ich immer gedacht habe.

„Ich muss mit meiner Frau sprechen, Selina", bringe ich schließlich hervor und fokussiere mich wieder ganz auf mein Vorhaben.

Selina schaut mich für einen Moment nur abwertend an, presst sich die schmalen Lippen aufeinander, als wolle sie ein paar Worte daran hindern, aus ihrem Mund herauspurzeln zu wollen. Ihre braunen Augen fixieren mich, scannen mich von oben bis nach unten ab und ich fühle mich mehr als unwohl. Es wäre mir sehr viel lieber, wenn Selina eine andere Augenfarbe hätte, als ihre Tochter. Nachdem Selina ein paar schnippische Bemerkungen zu meinen mehr oder weniger ungekämmten Haaren, dem kleinen Fleck, der sich auf meinem T-Shirt befindet, weil ich dort etwas Soße verkleckert habe und dummerweise vergessen habe, das er dort ist und zu meiner nach ihrer Hinsicht viel zu kurzen Shorts, die mir bis über die Knie geht, abgegeben hat, antwortet sie endlich auf meine Frage.

„Du hast dich seit Wochen nicht bei Marina und Jannes gemeldet. Wieso gerade jetzt?"

Ich weiß, dass es eine Genugtuung für Selina ist, dass ich mich nicht bei meiner Familie gemeldet habe, sie sieht sich darin bestätigt, dass ich ein unerzogener Bengel bin, der sich nur um sich selbst schert.

„Mama, bitte lass David ins Haus". Ich zucke zusammen, als ich Marinas Stimme höre. Ich fühle Geborgenheit, Liebe, Glück und gleichzeitig Schuld, Trauer und einen tiefen Schmerz. Unsicher trete ich ein, nachdem Selina mich mit einem tiefen Seufzer und einer wenig herzlichen Geste ins Haus bittet. Ich bleibe im Flur stehen, an den Wänden hängen noch immer die gleichen Kindheitsbilder von Marina und Samuel, die schon ihren Platz dort hatten, als Marina mich das erste Mal mit zu ihren Eltern genommen hat. Ich blicke in das unbeschwerte Lachen meiner sechsjährigen Frau, die stolz ihre blaue Schultüte, auf der ein Delfin zu sehen ist, in die Kamera hält. Neben ihr steht Samuel, der just in dem Moment, als das Bild aufgenommen wurde, seiner kleinen Schwester die Zunge rausstreckt.

„David", wispert Marina. Mir war nicht klar, dass sie mir so nahe gekommen ist, aber sie steht jetzt direkt vor mir. Selina ist wahrscheinlich schon längst in ein anderes Zimmer verschwunden und darüber bin ich sehr erleichtert. Das Marina mir so nahe ist, macht mich furchtbar nervös. Ich atme ihren vertrauten Duft ein, den ich immer so schwer beschreiben kann, es ist aber auch egal. Ich liebe ihn einfach, so wie alles an ihr. Ich wage einen vorsichtigen Blick in die braunen Augen, die ich so sehr vermisst habe und in denen ich in ein paar Minuten tiefen Schmerz und wahrscheinlich noch größere Enttäuschung, sehen werde. Jetzt schauen sie mich noch neugierig an, ja sogar liebevoll, etwas, das ich seit der Fehlgeburt so sehr in ihnen vermisst habe. Mein Blick fällt auf Marinas Lippen, wie gerne würde ich meine Hand in ihr Gesicht legen, ihre Wange streicheln und meine Finger auf diese geschmeidigen, Lippen legen...

Ich stolpere einen Schritt nach hinten, ich muss Abstand zwischen Marina und mir schaffen, ich ertrage diese Zärtlichkeit, diese Fürsorge, die meine Frau mir gerade schenken will, nicht. Ich darf nicht schwach werden, sonst schaffe ich es nicht mehr, ihr die Wahrheit zu sagen.

„Ich muss mit dir reden, Marina". Meine Stimme ist zittrig, weil ich genau weiß, dass ich meiner Frau gleich den Boden unter den Füßen wegziehen werde. Marina scheint es so viel besser zu gehen, aber ich kann jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich kann nur darauf hoffen, dass wir eines Tages wieder zueinander finden werden, wenn ich ihr jetzt die Wahrheit sage. Eine Lüge wäre falsch und sie würde irgendwann an die Oberfläche dringen und alles nur noch viel schlimmer machen.

„Es gibt so vieles über das wir reden sollten", antwortet sie mir. Sie ist etwas unsicher geworden, seit ich vor ihr zurückgewichen bin. Ich kann es ihr nicht verübeln. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich noch immer darunter leide, dass sie mich in ihrem Schmerz ausgegrenzt hat. Und ja, dass hat sie auch, aber es ist nicht die Sache, die ich jetzt ansprechen muss.

„Ich habe dich betrogen, Marina". Ich kann die Worte hören, die mir selbst über die Lippen kommen und ich kralle die Finger meiner rechten Hand in meine Haare, um mich irgendwie selber zu beruhigen. Nur zu blöd, dass das nicht funktioniert. Auf der einen Seite fühlt es sich verdammt erleichternd an, dass ich meiner Frau die Wahrheit gesagt habe, auf der anderen Seite bereitet es mir unfassbare Schmerzen, vor allem, als ich in Marinas Augen schaue. Gerade eben spiegelte sich darin noch so viel Hoffnung und Besorgnis und jetzt ist da wieder nur dieses tiefe schwarze Nichts. Ich wusste, dass sie so reagieren würde, warum versuche ich dann trotzdem verzweifelt sie zu berühren, sie zu trösten? Sie stößt mich immer von sich weg, wehrt sich gegen mich.

„Verschwinde aus diesem Haus, David Adam Hildt", schreit Marina mich schließlich an, in ihren  Augen sehe ich so viele Tränen, die  ihr langsam über die Wangen kullern, aber ihre Stimme ist gefasst und mehr als deutlich.

Und ich?

Ich weiß, dass ich gehen muss.

In Your ArmsWhere stories live. Discover now