6 - Faszination

28 7 24
                                    

Mitleid machte sich in ihm breit, als er bemerkte, wie ihre Hände zu zittern anfingen mit der sie nicht vorhandene Krümel vom Tisch schnippte. Das erklärte wenigstens, warum sie so verängstigt war und wieso sie für seinesgleichen nicht sonderlich viel übrig hatte. Eva senkte den Blick auf die Tischplatte und er erkannte, dass sie gegen sich kämpfte, um Frau Lothar die Antworten zu liefern, die sie verlangte. Kurz schüttelte sie den Kopf als müsse sie loswerden, was in ihren Gedanken herumspukte.

„Ich brauche keine Ausbildung, denn ich helfe meinem Vater in der Wirtschaft. Später werde ich heiraten und für den Fortbestand der ... Kinder bekommen. So wie es sich gehört."

Seine Augenbrauen ruckten reflexartig hoch und er sah, wie sich ihr Kinn noch ein bisschen vorschob, als würde sie dafür eine Verurteilung erwarten. „Und ich wollte niemanden verletzen. Ich dachte, der Laden wäre leer. Hab den Para... den Kerl nicht gesehen. Zufrieden?"

Irritiert starrte er das seltsame Mädchen vor sich an. Obwohl das letzte Wort ihrer Äußerung wieder trotzig geklungen hatte, hatte in den Sätzen davor so etwas wie Bedauern mitgeschwungen. Das widersprach jedoch der Tatsache, dass er wohl ein Parasit war.

„Fast. Doch erstmal reicht das, denke ich. Nur so viel, Eva: Während du hier bist, möchte ich nicht hören, dass du unsere Bewohner mit irgendwelchen Schimpfwörtern belegst. Die sind einem körperlichen Angriff gleichzusetzen, auch wenn man die Verletzungen nicht sieht. Du musst die Anwesenden nicht mögen, aber sie werden mit Respekt behandelt. Das Gleiche verlange ich von ihnen. Klar?"

„Ja, ja, schon klar." Er musste fast grinsen, weil Eva wirkte, als würde sie jeden Moment mit den Augen rollen. Sie war wirklich widersprüchlich: Man konnte das Feuer erahnen, das in der Hülle von Unterkühltheit loderte. Ebenso wie immer wieder Verletzlichkeit durchschimmerte. Es wird die nächste Zeit jedenfalls nicht langweilig werden.

Frau Lothar nickte nur und wirkte zufrieden, ehe sie sich ihm zuwandte. „Dann gehen wir jetzt an die Verteilung der Aufgaben heute. Rasin, die Toilette im Frauentrakt ist wieder verstopft..."

Er bemerkte, wie Eva für einen Moment die Gesichtszüge entglitten und ihn anstarrte, ehe sie sich hastig fing und unbeteiligt tat. „Ich habe keine Ahnung, wieso die Aushänge nicht greifen, dass sie nichts ins Klo werfen sollen, aber so ist es eben. Es tut mir leid, dass du dich darum kümmern musst..." Rasin zuckte nur mit den Schultern und trank einen Schluck von seinem bereits kalten Kaffee. „Außerdem sind wieder ein paar Glühbirnen durchgebrannt, bitte geh durchs Haus und wechsle sie aus, ich habe neue besorgt. Sie sind noch im Wagen, genauso wie ... Trommelwirbel ... die Wandfarbe, die endlich genehmigt worden ist. Die müsstest du nach drinnen tragen."

Erfreut zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Ja, es würde definitiv die nächste Zeit etwas Abwechslung in seinen Tagesablauf kommen. „Ok, Frau Lothar. Mach ich gern."

„Das ist wirklich lieb von dir. Eva, ich möchte, dass du Rasin dabei hilfst. So weiß ich, dass du nicht allein unterwegs bist und Rasin wird sicher ein Auge auf dich haben." Jetzt war es an ihm, die Sozialarbeiterin anzustarren, während er bemerkte, dass Eva widersprechen wollte, dann jedoch tatsächlich mit den Augen rollte, ehe sie nickte. Was ihn ja schon fast wieder zum Grinsen brachte. Aber eben nur fast. Eigentlich hatte er keinen Bock, den Aufpasser für Eva zu spielen. Er hatte nur ausdrücken wollen, dass sie besser mit Frau Lothar aufgehoben war. Vor der hatte Kalim wenigstens etwas Respekt.

„Ich möchte, dass ihr zuerst die Gemeinschaftsbereiche streicht. Zum Abkleben habe ich auch Material im Kofferraum. Für die Zimmer der Bewohner mache ich einen Aushang, in den sie sich eintragen können, falls in ihren Privatbereichen gemalert werden soll. Zudem möchte ich, dass die Gemeinschaftsräume etwas freundlicher werden. Eva, vielleicht fällt dir dazu was ein?"

Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt