8 - Interesse

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Dieses Mädchen verwirrte ihn, so wie es dasaß und in die Runde starrte, die Arme vor der Brust verschränkt, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie genervt sie war. Sie war nun die zweite Woche hier und war weiterhin nicht sonderlich gesprächig. Auch als zugänglich konnte man sie nicht bezeichnen.

Was ihr aufgetragen wurde, erledigte sie in stiller Bedächtigkeit. Ab und an schien Ungläubigkeit über ihr verschlossenes Gesicht zu huschen oder sie schaute ihr Gegenüber fassungslos an. Doch ansonsten fügte sie sich wortlos, ohne großartige Reaktionen zu zeigen. Er wurde nicht schlau aus ihr, obwohl sie mittlerweile bereits fast alle Risse in den Wänden ausgebessert hatten. Zumindest jene, die sich in den Gemeinschaftsräumen befanden.

Frau Lothars Blick streifte ihn und er versuchte, wenigstens so zu tun, als könne er sich auf die Tunwörter konzentrieren, die sie an die Tafel geschrieben hatte. Doch seine Augen wanderten wieder zu Eva, die wortlos die Stirn in Falten legte, als Sya die Konjunktionen vorlas. Automatisch unterdrückte er ein Grinsen. Ihre Attitüde amüsierte ihn.

Das hatte bereits damit begonnen, dass sie plötzlich vor ihnen gestanden und ein Kinderlied gesungen hatte. Da hatte er schon geahnt, dass sie nur so knallhart wirken wollte. Wenn er sich recht erinnerte, hatten sich in ihren Augen Tränen gesammelt, als sie Aaliyah dabei beobachtet hatte, wie sie zu der Melodie getanzt hatte.

Doch besiegelt hatte diesen Eindruck, was am folgenden Tag passiert war. Da hatte die Heimleiterin sie gefragt, was sie tun wollte, und Eva hatte erwartungsgemäß mit den Schultern gezuckt. Diese Geste verwendete sie oft, war ihm aufgefallen. Frau Lothar hatte sie daraufhin nur abwartend angesehen und dann hatte sich Eva doch zu einer Antwort durchgerungen. Sie hatte darum gebeten, die Bodenfliesen im Erdgeschoss reinigen zu dürfen.

Er hatte bemerkt, dass Frau Lothar nicht einverstanden gewesen war mit Evas Wahl, trotzdem hatte sie es erlaubt. Er war weiterhin verwirrt, als er daran dachte, wie überrascht Eva gewirkt und wie kleinlaut sie danach gefragt hatte, ob sie nebenbei Musik hören dürfe. Die Sozialarbeiterin war ebenfalls verdutzt gewesen, hatte aber sofort bejaht. Für einen Moment hatten Evas Augen erfreut aufgeleuchtet und er hatte geschluckt.

„Rasin?" Irritiert blinzelte er Frau Lothar an, ehe er sich fing.

„Ja?"

„Würdest du bitte vorlesen, was auf der Tafel steht?" Automatisch flogen seine Augen zum Whiteboard und er nickte. Er mochte die erwartungsvollen Blicke nicht so, die jetzt auf seinem Gesicht prickelten. Einer brannte sich förmlich hinein und er ahnte, dass er von einem jungen, blonden Mädchen kam, das ihn mehr beschäftigte, als es sollte.

„Ich sehe, du sie-st, er, sie, es sieht." Jedes Mal hatte er das Gefühl beim Du seine Zunge verknoten zu müssen, dachte er ein Seufzen unterdrückend. Er merkte, wie Frau Lothar ihn anlächelte. Anders als Eva, die aussah, als würde sie jeden Moment mit den Augen rollen. Es sich aber verkniff.

Er hörte, wie sich Frau Lothar nun Sya zuwandte und diese sich ebenfalls größte Mühe gab, die Worte abzulesen. Was Sya schwerer fiel, weil sie noch nicht so lange da war und nie eine deutsche Schule von innen gesehen hatte. Im Augenwinkel sah er, dass Eva sich auf die Unterlippe biss und ihr Knie nun auf und ab wippte.

Sofort wanderten seine Gedanken wieder zu dem Tag, an dem Eva auf den schmutzigen Fliesen im Erdgeschoss gekniet und mit der abgeschraubten Bürste des Schrubbers darüber geputzt hatte. Wenn er sich konzentrierte, konnte er sich den leisen Gesang in Erinnerung rufen, der mit ihrer zarten Stimme zu ihm geschwebt war, während er sich daran gemacht hatte, die Risse in ihrer Nähe zuzuspachteln.

Erstaunt stellte er fest, dass seine Hände weiter feucht wurden und sein Herz wieder heftig gegen seine Rippen pochte. Sie hatte so in sich versunken gewirkt, als sich zu seiner Überraschung Popmusikklänge zwischen ihre Stimme gewoben hatte. Ihr Gesicht war friedlich gewesen, obwohl sich ihre Fingerknöchel weiß abbildeten, als sie die Bürste umklammerte und den Boden mit effizienten, kraftvollen Bewegungen putzte.

Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWhere stories live. Discover now