12 - Mitgefühl

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Er beobachtete, wie Eva sich schwerfällig von ihrem Platz erhob und den Raum mit holzigen Bewegungen verließ. Mit der Aussage, sie würde sich nochmal im Spielzimmer umsehen. Auf seiner Brust thronte weiterhin ein schwerer Block, der ihm die Atmung erschwerte, wenn er sich vorstellte, wie es wohl wirklich in dem störrischen Mädchen aussah.

Gerade hatte sie die Deckung etwas fallen lassen und dahinter war ein Schatz zum Vorschein gekommen. Sie hatte ihre Familie schützen wollen. Mit den falschen Mitteln. Doch das war der Grund für ihre Tat gewesen. Das rührte ihn mehr, als er ausdrücken konnte. Obwohl ihre Anschauung auf Menschen wie ihn natürlich blieb. Schon bei dem Gedanken daran, wie heftig sein Herz in seiner Brust geklopft hatte, als er instinktiv seine Hand zu ihrer geschoben hatte, wurde ihm die Kehle enger. Er könnte es leugnen. Aber sie berührte ihn wider jede Vernunft.

Seine Gedanken verflüchtigten sich, als Frau Lothar eine Hand auf seinen Arm legte, als er sich ebenfalls erheben und Eva folgen wollte. Irritiert schaute er in ihr Gesicht und entdeckte die Anzeichen von Sorge darin. „Rasin, das Mädchen ist völlig erschöpft, ist dir das aufgefallen?"

„Ja, Frau Lothar. Sieht Eva sehr müde aus." Ein Nicken bestätigte das und die Falte zwischen den Brauen der Heimleitung vertiefte sich noch. Abwartend schaute er sie an und wartete darauf, dass sie ihm erklärte, worauf sie hinauswollte.

„Ich möchte, dass Eva sich irgendwie etwas ausruht. Nur wie? Hm. Vielleicht kommt sie etwas zur Ruhe, wenn sie in der Kuschelecke Probe liegt?" Automatisch zuckte er mit den Schultern. Woher sollte er wissen, ob Eva dann wirklich entspannen konnte? Andererseits wirkte sie so müde, dass es auch nicht ausgeschlossen war.

„Kannst du es versuchen, Rasin?" Verwirrt schaute er seine Vorgesetzte an. Sie wollte, dass er sich mit Eva in die neue Kuschelecke legte? „Oh, das war vielleicht übers Ziel hinaus. Ich dachte nur ... ihr hättet eine Verbindung. Sie sucht deinen Blick, wenn ihr etwas unangenehm ist."

„Ja, aber arbeiten wir nur susammen. Sonst keine Bindung." Jetzt leuchteten die Augen der Sozialarbeiterin kurz auf, ehe die Belustigung auf ihrem Gesicht sich wieder verflüchtigte und sie nickte. Er sah, dass sie sich ernsthafte Gedanken um Eva machte. Denn so sah die Heimleitung immer aus, wenn sie sich sorgte.

Bevor Frau Lothar das Heim übernommen hatte, hatte er nie das Gefühl gehabt, als würde sich jemand um sie kümmern. Der alte Leiter hatte nie versucht, die Gemeinschaft zu stärken und ihr Leben hier zu verbessern. Dem war es nur um Kosten gegangen. Die so gering wie möglich zu halten.

„Würdest du mir trotzdem den Gefallen tun und versuchen, dass Eva sich etwas hinlegt? Ich denke, sie wird zuhause von ihren Pflichten nicht befreit sein, nur weil sie tagsüber hier arbeitet. Aber so genau weiß ich das nicht. Ich sehe nur, dass sie kaum die Augen offenhalten kann. Heimschicken darf ich sie nicht, sofern sie nicht krank ist, also wird sie sich hier ausruhen, wenn sie das kann." Frau Lothar schürzte nun die Lippen, ehe sie seufzte und er fragte sich schon jetzt, wie er hinbekommen sollte, dass Eva sich ausruhte.

Obwohl die Heimleitung recht hatte. Auch er hatte gemerkt, dass Eva ihn anschaute, wenn sie sich unsicher fühlte. Vielleicht konnte das ja eine Basis sein. Wofür denn, Rasin? Für das gemeinsame Reiten in den Sonnenuntergang? Das sagt nichts aus.

„Ich werde nochmal die Kollegin von der Jugendhilfe kontaktieren. Womöglich hat sie noch ein paar Infos über Eva, die nicht in den Akten vermerkt sind. Das wäre wirklich hilfreich, um sie ein bisschen mehr aus der Reserve locken zu können. Wobei ich heute ja schon fast zufrieden bin. Hm, ok. Entschuldige, Rasin. Ich denke nur laut nach. Wir sollten an die Arbeit gehen."

Er stimmte leise zu, während Frau Lothar sich nun ebenfalls von ihrem Stuhl erhob und sich die beiden Kaffeetassen schnappte, um sie in die Spüle zu stellen. Gemeinsam verließen sie den Raum und er sah ihr noch einen Moment nach, als die Heimleitung den Gang entlang lief, ehe sie hinter der Doppelglastür verschwand.

Er strich sich über seine Stirn und schüttelte den Kopf. Das konnte heiter werden, oder? Vor allem würde Eva bestimmt nicht auf seinen Rat hören, sich hinzulegen. Das konnte nicht sein, denn sie vertraute ihm nicht. Seufzend betrat er das Spielzimmer, wo Eva mitten im Raum stand und auf die grauen Wände starrte. Ihre Schultern waren eingesunken und sie wirkte wie ein Häufchen Elend.

Wortlos stellte er sich daneben und folgte ihrem Blick. Doch mehr als die milchigen Fensterscheiben und das getünchte Mauerwerk konnte er nicht entdecken. Er hatte mal gehört, dass dieses Zimmer vorher ein Konferenzraum gewesen sein musste. Zumindest war er so geschnitten: Mit seinem länglichen Innenmaß hätte hier locker ein langer Tisch Platz gefunden, um den sich mindestens 20 Stühle sammeln konnten. Doch das gehörte der Vergangenheit an. Er drehte sein Gesicht zu Eva und bemerkte, dass sie im Prinzip ins Leere schaute. Wäre da nicht dieser abgrundtief erschöpfte Ausdruck in ihren Augen, die von den dunklen Ringen umrandet waren.

„Alles ok?" Die Worte schlüpften aus seinem Mund, ehe er darüber nachdenken konnte und ihm wurde die Luft eng, als sich Evas Gesicht wie in Zeitlupe zu ihm drehte. Einen Moment schaute sie ihn nur an, ehe sie zu seiner Überraschung den Kopf schüttelte. Woraufhin sie sich kurz auf die Unterlippe biss und mit den Schultern zuckte.

Der Drang, sie in den Arm zu nehmen, wurde in diesem Augenblick so übermächtig, dass er sich nur über sich wundern konnte. Noch mehr verdutzte ihn allerdings, dass Eva ihre Hand nicht sofort zurückriss, als er seine automatisch ausstreckte und sich ihre Finger berührten. Stattdessen senkte sie ihren Blick auf die Stelle, wo seine Haut prickelte.

So sehr, dass er es war, der seine Hand wieder zurückzog. Er schluckte trocken und rieb sich die Seite seines kleinen Fingers, während Eva sich kaum wahrnehmbar räusperte. Als er seine Augen zurück zu ihrem Gesicht wandern ließ, hatte sich die Sehnsucht darin noch nicht ganz verflüchtigt. Was er sich bestimmt einbildete.

„Sollten wir anfangen." Sofort fiel ihm auf, dass er wieder einmal Subjekt und Prädikat verwechselt hatte, und wartete automatisch auf Evas Rüge. Doch sie schaute ihn nur an und nickte, ehe sie auf dem Absatz umkehrte und aus dem Raum schlurfte. Schwallartig stieß er den offenbar angehaltenen Atem aus und sah ihr nach. Dieses Mädchen würde ihn noch länger beschäftigt halten, so viel war klar.

Warum bei dieser Vorstellung sein Herz einen Freudensprung in seiner Brust machte, wusste er allerdings nicht. Er war nicht auf Schwierigkeiten aus. Und Eva würde Probleme verursachen. Schon allein, weil sie ihn im Grunde verabscheute. Oder eben Menschen seines Schlags. Was aufs Gleiche hinauslief.

Dennoch konnte er nicht abstreiten, dass ihn das leichte Zittern ihrer Finger bewegte, das sich in ihr ausgebreitet hatte, nachdem sich ihre Hände berührt hatten. Ein Seufzen drang über seine Lippen. Er würde es auf sich zukommen lassen müssen. Einen Schritt nach dem nächsten. Das hast du doch gelernt, Rasin, während du deinen Weg gegangen bist, der dich genau hierher gebracht hat. Allah ist groß. Er weiß, was dir noch verborgen bleibt.

Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas, sodass er sich nun ebenfalls umdrehte und den Raum verließ, um seiner aufgetragenen Arbeit – und Eva – nachzugehen.

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Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora