7 - Misstrauen

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Knapp eine Woche später lag sie im Dunklen wie erschlagen in ihrem Bett und ließ die Erlebnisse der letzten Tage Revue passieren. Nichts war so, wie sie es erwartet hatte. Sie hatte gedacht, dass die sich wie die Maden im Speck breitmachten und sich darüber amüsierten, wie dumm die Deutschen waren, dass sie ihr Leben finanzierten.

Doch niemals hätte sie damit gerechnet, dass der Kerl, den sie während ihrer Sozialstunden begleitete, so zupacken würde. Dass er sich wirklich seinen Lebensunterhalt verdiente. Aber es war offenbar so. An ihrem ersten Tag hatte er nicht nur mit ihr die Küche geschrubbt, bis sie wieder geglänzt und geduftet hatte. Er hatte auch, nachdem sie den Müll weggebracht und die Malutensilien aus dem Wagen geholt hatten, die Türe zu Frau Lothars Büro repariert.

Sie hatte im Prinzip nur dumm danebengestanden und ihm zugesehen. Er arbeitete mit effizienten Bewegungen und schien sehr überlegt zu sein. Sie kannte nur die Poser, die mit ihren dicken Autos auf die Supermarktparkplätze fuhren, während ihre Muftimusik aus den Boxen dröhnte. Doch er war anders. Ernst. Und fleißig. Obwohl sie das nicht so gerne zugeben wollte.

Außerdem schien er zu akzeptieren, dass sie kaum Redebedarf hatte. Er hatte auch keine Anstalten gemacht, sie nochmal zu berühren nach dem Zusammenstoß mit diesem Parasiten, der ihr durchs Haar gestrichen hatte. Stattdessen schien er Abstand zu wahren, ohne sich zu weit von ihr zu entfernen, wenn nicht Frau Lothar oder Doreen bei ihr war.

Letztere war eine der Freiwilligen, die sich um die Kleiderkammer kümmerte. Jetzt mit ihr zusammen, so wie es aussah. Eva schüttelte automatisch den Kopf, als sie sich an den mit Klamotten vollgestopften Raum erinnerte, dessen Inhalt nach keinem System sortiert war. Doreen hatte ihr erklärt, dass sie das ein paar Mal versucht hatten, doch schon nach einer Schicht wäre wieder alles durcheinander.

Gerade herrschte noch mehr Chaos, weil sie die Sommerklamotten in luftdichte Boxen verpackten. Damit die Kleidung nicht von Motten zerfressen wurde, legten sie einen Lavendelstreifen hinein. Danach wurden die Behälter in den Bereich getragen, wo wohl allerlei eingelagert wurde. Zumindest hatte sie dort Bettgestelle, eingeschweißte Matratzen und andere Dinge entdeckt, die offenbar noch nicht benötigt worden waren.

Auf dem Rückweg hatten sie Winterkleidung mitgenommen, die sie stattdessen auf die Ständer gehängt und in die Regale geräumt hatten. Währenddessen hatte Doreen ihr erklärt, dass die Klamotten aus Spenden stammten und den Bewohnern zur Verfügung gestellt wurden.

Die grauhaarige Frau in den mittleren Fünfzigern hatte ihr erzählt, die kämen immer, wenn sie etwas benötigten, und gerade würden die Sachen für die kalten Tage gebraucht werden. Sie hatte das nur abgenickt. Was sollte sie denn sagen? Dass das kleine rote Strickkleidchen sie irgendwie gerührt hatte, wie es da zwischen den Winterjacken und Parkas hing? Oder dass an manchen Sachen die Knöpfe nicht alle die gleiche Farbe hatten?

Sie hatte nicht verhindern können, dass sie daran dachte, wie die offenbar rumlaufen mussten, wenn sie kein Geld für Kleidung hatten. Ich kämpfe immer noch damit, obwohl ich mir sage, dass es nur gerecht ist. Immerhin bekommen sie die Sachen geschenkt, während der Rest sie sich mit teuerverdienten Geld kaufen muss.

Eva wälzte sich herum und ihr Blick blieb an den fluoreszierenden Zeigern ihrer Uhr hängen. Sie musste bald hinunter. Durch ihr geöffnetes Fenster drangen aber noch die harschen Stimmen des Ortsverbandes, der heute in ihrer Wirtschaft ein Treffen abhielt. Die Lage Deutschlands wurde wieder heiß diskutiert. Manchmal erhaschte sie einen Satzfetzen. Meistens hörte sie nur lautes Stimmengewirr, selbst wenn sie die Ohren spitzte.

Automatisch rieb sie sich über die Stirn, als ihre Gedanken zurückwanderten zu einer der Deutschstunden, die sie beobachten musste. Auch das war anders als sie vermutet hatte. Statt einer unmotivierten Horde Affen, die unwillig irgendwelche Vokabeln paukten, beobachtete sie jeden Tag, wie die sich mit der Aussprache plagten und versuchten, verständliche Sätze zu bilden.

Wie in einer richtigen Schule saßen sie an den Tischen, hatten Blöcke dabei und notierten eifrig, was Frau Lothar an das Whiteboard an der Wand schrieb. Klar, bei der Aussprache, die sie an den Tag legten, liefen ihr wiederholt Schauer über den Rücken, obwohl sie zugeben musste, dass es bereits besser geworden war. Seit ich ausgeflippt bin.

Sie hatte echt gedacht, Frau Lothar würde sie köpfen, als sie frustriert ausgerufen hatte, es könne ja nichts werden, wenn sie schon die Buchstaben vermurksten. Doch die Sozialarbeiterin hatte sie nur angeschaut und sie gefragt, was sie vorschlagen würde, damit sie ihnen helfen konnte. Ich habe Frau Lothar bestimmt angesehen, als hätte sie fünf Köpfe.

Reflexartig schüttelte sie den Kopf, als sie sich daran erinnerte, wie sie dann aufgestanden und das Alphabet aufs Whiteboard geschrieben und den Anwesenden dabei die Intonation vorgesagt hatte. Sie war echt zusammengezuckt, als in ihrem Rücken bei jedem Buchstaben ein Chor erklungen war. Im Augenwinkel hatte sie bemerkt, wie Frau Lothar sie nur angelächelt hatte. Aber wieso bin ich mit dem Kinderlied um die Ecke gekommen? Warum hat es mich so gerührt, als das kranke Mädchen sich vom Schoß seiner Mutter geschoben und sich inmitten der Tische in diesem kahlen Zimmer zu meinem schiefen Gesang gedreht hat?

Es war falsch so zu fühlen. Das war ihr bewusst. Immer wieder hallten die Dinge in ihrem Kopf herum, die sie wusste. Oder von denen sie zumindest gedacht hatte, dass sie es wüsste. Nur passten die so gar nicht zu dem, was sie bei ihren Sozialstunden sah. Die benahmen sich nicht wie Halbwilde. Wenn sie ehrlich war, behandelten sie sich gegenseitig gesitteter als die Mitglieder der Ortsgruppe. Und das befremdete sie.

Dennoch war es ein Fakt, dass einer von diesen Parasiten ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. Sie drehte sich und schaute an die Decke und versuchte, sich zu erinnern, wie sie gewesen war. Doch sie konnte sich fast nicht mehr entsinnen, wie ihre Mama gewesen war. Sie wusste, dass sie ihr ähnlich sah. Zumindest sagte das Joseph immer wieder und ihr Vati konnte ihr kaum in die Augen blicken. Was laut Josi daran lag, dass ihr Vater jedes Mal seine Frau sehen würde, wenn er sie anschaute.

Der Geruch nach Chlor stieg ihr in die Nase und sie schluckte hektisch gegen die Gefühle an, die sich in ihr aufbauten. Reflexartig rieb sie über ihre rechte Handfläche und zwang ihren Kopf zurück in die Gegenwart.

Wo sie dunkelbraune interessierte Augen erwarteten, die sie beobachteten. Instinktiv wusste sie, dass sie auch mehr gesehen hatten, als sie sollten, obwohl der zugehörige Mund dazu schwieg. Überhaupt erzählten die Lippen kaum noch etwas. Manchmal dachte sie, sie würden sich gleich öffnen oder sich zu einem Lächeln verziehen, doch dann verflog das Gefühl wieder. Übrig blieb der ernste Ausdruck in dem kantigen Gesicht, das sie wohl schon malen könnte, so oft, wie es sich in ihren Kopf stahl.

Eva schloss die Augen und zog fröstelnd ihre Bettdecke über sich. Es war einfach nicht in Ordnung, dass er sich in ihren Gedanken einnistete. Genauso wenig, dass sie begann, sich in seiner Nähe sicherer zu fühlen. Er war ein Parasit, ein Individuum, gleich dem, das ihrer Mutter das Leben gekostet hatte. Da half es auch nicht, dass sie sich innerlich krümmte, wenn er sie aus seinen Augen anschaute, als hätte sie ihm die Offenbarung geliefert, nur weil sie eine Anmerkung machte.

Oder er neugierig wiederholt den Kopf schräg legte, wenn er sie ansah. Als wolle er in ihr Hirn kriechen und den letzten Winkel entdecken. Dann erzählte sein Gesicht so viel, ohne dass ein Ton seinen Körper verließ. Und schon wieder denkst du über ihn nach! Wieso, Eva? Warum kannst du ihn nicht als das unbestreitbare Übel abtun, das er ist?

Ein Seufzen vermischte sich mit dem Ticken der Uhr und sie schlang ihre Arme um sich. Ihr Kopf war so voll, dass sie kaum noch Ruhe fand. Nicht mal mehr beim Zeichnen konnte sie sich erden. Oder beim Putzen. Egal, mit wie viel Kraft sie über die Oberflächen schrubbte, nichts konnte den Tumult in ihrem Innersten beruhigen, den die bohrenden Fragen in ihr erzeugten. War sie falsch informiert oder verschleierten die die Wahrheit? Was war richtig und welche Infos falsch? Konnte sie ihren Augen trauen oder sollte sie dem vertrauen, was sie seit jeher durch ihr Leben trug?

Sie wusste es nicht mehr und das machte ihr zu schaffen. Es war anstrengend. Sie würde so gerne mit Josi darüber reden. Doch sie hatte die leise Ahnung, dass ihr Bruder nicht davon begeistert wäre, würde sie ihm erklären, worüber sie nachdachte. Ein Seufzen drang über ihre Lippen, während sie versuchte, die Augen offenzuhalten. Die Stimmen, die durch ihr Fenster hallten, wurden weniger. Es konnte also nicht mehr so lange dauern. Das hoffte sie zumindest, denn sie war wirklich müde.

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Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWhere stories live. Discover now