10 - Rührung

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Seufzend legte Rasin das Buch weg, das er las und dessen Sinn er doch nicht begriff. Dafür geisterte ihm zu viel ein bestimmtes Mädchen im Kopf herum. Er strich sich übers Gesicht und starrte anschließend wieder an die Decke. Er wurde nicht aus Eva schlau.

Sie wirkte wie ein Vögelchen, das nicht wusste, wie es fliegen sollte. Eins, bei dem jeder Flugversuch bisher gescheitert war oder der unterbunden wurde. Dieses Bild hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, während der Deutschstunde und es rührte ihn weiterhin. Denn obwohl sie sich bemüht hatte, die Fassade der Souveränität zu bewahren, hatte ihre ganze Körpersprache erzählt, welchen Kampf sie mit sich ausgetragen hatte.

Kurz nach ihrem Vorschlag mit der Bücherei hatte sie sich sogar etwas geduckt, als würde sie erwarten, dass Allah Blitze vom Himmel schicken würde, die sie jeden Moment treffen würden. Oder an welchen Gott sie auch immer glaubte. War sie überhaupt gläubig? Wie sah ihr Leben denn aus, wenn sie sich ihr Körper verkrampfte, weil sie eine Idee hatte?

Er war der Meinung gewesen, dass sie behütet aufgewachsen war. Aber vielleicht täuschte er sich da? Er hatte keine Ahnung. Was er jetzt jedoch wusste, war, dass ihr Herz keinesfalls den Dogmen folgte, mit denen sie offenbar großgeworden war. Dafür blitzte zu oft Mitgefühl und Rührung in ihrem Gesicht auf.

Ob sie sich bewusst war, dass ihre feinen Züge nur allzu viel verrieten? Dass ihre leicht abstehenden Ohren sich röteten, wenn sie nervös wurde? Oder dass er das Zittern ihrer Hände spüren konnte, obwohl sie in einigen Metern Entfernung von ihm saß?

Reflexartig schüttelte er den Kopf und hoffte fast, dass die Bewegung auch das Bild verwischte, dass in seinen Gedanken leuchtete wie eine Reklame. Er musste damit aufhören. Es hatte sich rein gar nichts geändert an ihrer Einstellung, dass Menschen wie er nur Parasiten waren. Das bedeutete aber auch, dass er sich hüten sollte, Gefühle für sie zu entwickeln. Als hättest du die noch nicht. Willst du leugnen, dass deine Hände feucht werden, wenn du sie siehst oder du sie in deine Arme ziehen möchtest, weil sie so verunsichert ist?

Erneut drang ein Seufzen aus seinem Mund und er streckte sich, um die kleine Lampe auszumachen, die tapfer die Dunkelheit von draußen durchbrach. Er sollte schlafen. Morgen würde er weiter daran arbeiten, diesem Mädchen mehr entgegenzusetzen und seine Gefühle besser abzuschotten. Er wickelte sich enger in seine Bettdecke und schloss die Augen.

Doch schon kurz später sprangen seine Augenlider wie von selbst wieder auf und sein Blick heftete sich auf die schmalen Streifen Silberlicht, die an der Decke seines Zimmers klebten. Sofort war Evas Gesicht aufs Neue da und ihre Augen brannten sich in seine. Wie in der Deutschstunde, wo er das Gefühl gehabt hatte, sie müssten ihre Lippen nicht bewegen, um sich verstehen zu können. Was eine Illusion gewesen war. Sicherlich.

***

Missgelaunt starrte er auf die Kaffeetasse in seinen Händen. Er hatte kaum geschlafen. Wegen ihr. Automatisch huschte sein Blick zu Eva, die so aussah, wie er sich fühlte. Tiefe, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und er war sich fast sicher, wenn sie sich nicht so bemühen würde, würde sie vor Erschöpfung schielen.

Schon als sie den Raum betreten hatte, hatte es gewirkt, als würde sie jede Bewegung unheimlich viel Kraft kosten, weil jede Anspannung ihrem Körper sich verflüchtigt hatte. Schweigend hatte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber geschoben und starrte seitdem auf die Tischplatte, auf der sich wieder einmal die Milchringe einer Müslischale abbildete. Doch diesmal verzog sich ihr Gesicht nicht angewidert. Stattdessen musterte sie den eingetrockneten Fleck, als würde er die Antworten auf all die Fragen haben, die sie sich offenbar stellte.

Im Augenwinkel bemerkte er, dass Frau Lothar ihrerseits den Schützling vor sich taxierte. Die Heimleitung hatte die Stirn gerunzelt und die Unterlippe vorgeschoben als würde sie überlegen, was sie heute mit Eva anfangen sollte. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Mädchen vor sich gezogen. Es würde ihn nicht wundern, wenn dessen Kopf plötzlich auf die Tischplatte knallte, weil es eingeschlafen war. „Eva?"

Er beobachtete, wie der Blick seines Gegenübers zu der Heimleitung zuckte. Ihre Augen waren so erschöpft. Dennoch versuchte sie, den Schein zu wahren und zu wirken, als wäre sie hochkonzentriert. Doch die matten Iriden verrieten sie. Ich möchte sie in ein Bett legen, sie zudecken und dafür sorgen, dass sie schläft. „Geht es dir gut?"

„Klar." Sogar ihre Stimme klang spröde wie altes Holz. Sie verstärkte den Drang in ihm, sich um sie zu kümmern. So sehr, dass sich seine Finger schmerzhaft um den Henkel der Tasse krampften. Er musste den Impuls unterdrücken, aufzuspringen, um den Tisch zu hechten, sie auf seine Arme zu heben, aus dem Raum zu tragen und sie in sein Bett zu legen, wo sie Ruhe finden würde. Und ich vielleicht ebenfalls.

„Ok. Ich wollte etwas mit dir besprechen." Er hob ebenfalls den Blick zu Frau Lothars Gesicht, deren Züge sich nun geglättet hatten. Sie wäre jedenfalls eine bessere Pokerspielerin als Eva, so viel war klar. „Du bist ja jetzt schon ein paar Tage da und da dachte ich, dass es Zeit für dein Einstandsessen wird. Ist hier üblich."

„Einstandsessen?" Eva schaute die Sozialarbeiterin ebenso verdutzt an wie er. Das war hier üblich? Er hörte das erste Mal davon. Doch er schwieg. Falls er eines über Frau Lothar gelernt hatte, dann das sie meist einen Hintergedanken hatte, wenn sie so etwas forderte. Dabei handelte die Heimleitung jedoch immer so, dass es zum Vorteil des Einzelnen gereichte.

So würde es auch diesmal sein, ungeachtet dessen, dass sich ihm der Sinn noch nicht erschloss. Er beobachtete, wie die Sozialarbeiterin nickte. „Ja. Nächste Woche, bei unserem gemeinsamen Mittagessen, hab ich mir das vorgestellt. Du kannst dir also mal Gedanken machen, was du auftischen willst."

Fast hätte es ihn amüsiert, wie nun Evas Fassade der Souveränität endgültig in sich zusammenfiel. Aber eben nur beinahe. Denn jetzt wirkte sie so erschrocken und hilflos, dass sich seine Brust zusammenzog. Was macht dieses Mädchen nur mit mir? Sonst kümmere ich mich hauptsächlich um mich. Schon so lange.

Er beobachtete, wie Eva mit den Worten rang und das befeuerte dieses Drängen in ihm nochmals, sie zu beschützen. Doch vor Frau Lothar muss niemand beschützt werden. „Aber ... das geht nicht. Ich ... äh ... ich weiß nicht, wie man für so viele kocht. Und ... ich ... ich..."

Seine Brust krampfte sich noch mehr zusammen, als ihre weitaufgerissenen Augen zu ihm wandte und ihm pure Hilflosigkeit aus ihren Gesichtszügen entgegenleuchtete. Er sah, wie sie trocken schluckte, ehe sie den Blick wieder auf die Tischplatte senkte. „Ich kann sowas auch nicht bezahlen."

Ihr beschämtes Flüstern brannte sich wie Säure in seine Eingeweide und stellte ihm die Härchen auf seinem Körper auf. Seine Finger zitterten, als er betont unbeteiligt die Tasse anhob, um einen Schluck Kaffee daraus zu trinken. Er schmeckte bitter und schal. Davon abgesehen konnte man ihn nicht mehr als heiß bezeichnen. Hastig schluckte er den Inhalt seines Mundes hinunter und warf Frau Lothar einen Blick zu, der es offenbar genauso ging. Zumindest verrieten ihre gerunzelte Stirn und die vorgeschobene Unterlippe das. „Eva. Das..."

Eva schüttelte den Kopf und suchte nicht existente Krümel auf dem Tisch, um sie mit ihrem Zeigefinger aufzupicken. Offenbar fiel es ihr schwer, loszuwerden, was sie noch marterte. Er fühlte sich, als würde er als ungewünschter Beobachter in ihre Privatsphäre eindringen und wünschte sich, er hätte nicht jeden Tag Anwesenheitspflicht. Sein Mund war wie ausgedörrt. Sie sollte nicht so mit sich kämpfen. Das ist falsch. Dennoch muss sie sich wohl offenbaren. Was wird sie erzählen? Werde ich sie dann besser verstehen?

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Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWhere stories live. Discover now