9 - Verstörung

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Wieso war sie nur immer so vorlaut? Jetzt tat es ihr schon wieder leid, dass sie die Klappe aufgerissen hatte, obwohl es die Wahrheit gewesen war. Der Frau zuzuhören hatte ihr den Magen umgedreht. Gleich würde sie einen Vortrag bekommen, wie feindselig sie war und...

„Hast du denn eine Idee, wie man es Menschen wie Nadira es noch etwas leichter machen kann, flüssiger zu lesen und die Aussprache der fremden Worte zu meistern?" Erneut hatte die Heimleitung sie kalt erwischt. Wieso konnte die sich nicht verhalten, wie sie es gewohnt war? Wenn sie zuhause gewagt hätte, sich so zu benehmen, hätte ihr Vater ihr einen Karnickelfangschlag gegeben. Weil sie vorlaut gewesen war. Doch Frau Lothar schaute sie nur interessiert an. Genauso wie der Rest.

Vor allem die dunklen Augen, die sie bis in ihre Träume verfolgten, musterten sie forschend. Sie schluckte hart und versuchte auszublenden, dass alle sie jetzt anstarrten. Das war ihr unangenehm. Man fügte sich besser ein, um in der Menge unterzugehen. Bescheidenheit ist wichtig.

Doch konnte man sich damit behaupten? Hier? Wo sie in Gefahr war? War sie überhaupt in Gefahr? „Eva? Hast du eine Idee?"

Ihre Augen flogen zu der Heimleitung, an deren Mundwinkeln ein Lächeln spielte. Das war irgendwie beruhigend. Und schaffte es, dass sie sich besser konzentrieren konnte auf die Frage, die ihr gestellt worden war. Wie lernten die Kinder in der ersten Klasse denn lesen? Mit denen waren die wohl vergleichbar. Zumindest die meisten. „Erstlese-Fibeln."

Jetzt runzelte die Sozialarbeiterin die Stirn, obwohl ihre Augen interessiert aufblitzten, und Eva schluckte trocken. Sie hatte wieder gesprochen, bevor sie das wirklich durchdacht hatte. Automatisch zog sie den Kopf ein, denn es war ihr, als könne sie den Luftzug schon spüren, der ihren Nacken zum Prickeln brachte. Sag was! Erkläre es!

„Ich meine ... also ... in der ersten Klasse ... die Bücher. Die Buchstaben darin sind groß abgedruckt und manche Wörter sind durch Bilder ersetzt. Welche, die schwer zu lesen sind. Dennoch werden sie im Laufe der Zeit eingeführt. Es gibt so einen kleinen Wortschatz drin. Sie könnten vorgelesen werden. Schwächere und Stärkere. Den Kindern. Vor dem Schlafengehen. Hm ... dumme Idee." Ihre Hände zitterten weiter, obwohl sich ihre Finger umeinander geknotet hatten. Sie traute sich nicht, den Blick von der Tischplatte vor sich zu heben.

„Das klingt nach einer schönen Art, flüssiges Lesen zu trainieren." Sofort ruckte ihr Kopf zu der Heimleitung und Eva musste sich zusammenreißen, sie nicht anzustarren. Frau Lothar lächelte breit und ihren Augenwinkeln zeigten sich leichte Fältchen.

Die Gesichter der anderen strahlten ehrliches Interesse aus. Erneut schluckte Eva gegen die Dörre in ihrem Mund an, als ihr Blick automatisch zu IHM wanderte. Fasziniert bemerkte sie, dass die dunklen Augen nun wärmer wirkten. Schnell schaute sie zurück zu der Sozialarbeiterin, die nun seufzte. „Gibt nur ein Problem dabei. Leider haben wir keine Fibeln und die Anschaffung ist nicht im Budget. Hast du eine Idee, wie wir trotzdem welche bekommen?"

Automatisch schüttelte sie schulterzuckend den Kopf. Woher sollte sie das schon wissen? Da konnte die Enttäuschung der Anwesenden noch so auf ihrer Haut brennen. So sehr, dass sie am liebsten aus dem Raum geflüchtet wäre, um wieder Luft zu bekommen. „Ok. Dann werden wir so weitermachen wie bisher. Ich finde aber, das ist eine schöne Idee, Eva. Kann ich mir ja mal vormerken für die nächste Budgetbesprechung."

Jetzt war das Lächeln nicht mehr echt, das auf Frau Lothars Gesicht prangte. Es wirkte eher desillusioniert. Auch die Fältchen um die Augenwinkel waren verschwunden. Sofort zog sich ihre Brust zusammen und ihre Hände zitterten wieder. Sie beobachtete, wie sich die Sozialarbeiterin abwandte und zurück zur provisorischen Tafel trat. „Büchereien."

Wieso kannst du nicht deine Schnauze halten?! Es geht dich einen feuchten Scheiß an, wie sie irgendwas realisieren! Da kann die Idee noch so überraschend kommen, du hast dich da nicht einzumischen! Eva biss sich so fest auf die Zunge, dass es sie verdutzte, kein Blut zu schmecken. Dafür würde sie Josis strafender Blick streifen. Einer derjenigen, die sie immer innerlich erstarren ließen. „Was hast du gesagt, Eva?"

Kurz schloss sie die Augen. Es war falsch. Sie musste das hier irgendwie abbrechen. Sie waren nur Parasiten. Sie hatten ihre Mutter auf dem Gewissen. Sorgten dafür, dass an die Türen der braven Bürger die Polizei pochte, weil sie für ihr Recht eingestanden hatten. Alle Sklaven eines kaputten Systems. Wo andere bevorzugt wurden. Sie hatten nicht verdient, dass sie sich mies dabei fühlte, dass sie keine beschissenen Bücher hatten, mit denen ihnen die Eingliederung leichterfallen würde. Josef hat recht. Mein Herz ist zu weich. Ich bin eine Schande. Eine Vaterlandsverräterin.

„Eva?" Wie immer wunderte sie sich automatisch, wie in ihrem Namen so viele unausgesprochene Forderungen schwingen konnten. Wieso die Intonation der drei Buchstaben bedeutete, dass es die letzte Chance war, Unmut abzuwenden.

„Man könnte Ausweise für die Bücherei in der Nähe holen. Die sind kostenlos. Vielleicht hat man da so was." Sie wusste, dass ihre Stimme patzig klang. Aber es war ihr egal. Die war erwachsen oder nicht? Die hätte selbst auf die Idee kommen können. Stattdessen sollte sie sich den Kopf zerbrechen. Das war nicht fair. Sie krochen in ihre Gedanken und nisteten sich dort genauso ein wie in Deutschland.

Trotzdem hob sie den Kopf und bemerkte, dass das Lächeln auf sämtlichen Gesichtern zurückgekommen war. Manche waren sanft, kaum wahrnehmbar in den Mundwinkeln. Andere leuchten wie Neonschrift. Was ihr Herz heftiger klopfen ließ. Vor Freude. Während ein Kribbeln durch sie rieselte. Erneut schloss sie die Augen. Sie musste hier weg.

„Rasin? Würdest du bitte einen Aushang gestalten, an dem abgefragt wird, wer Lust hat, der nächstgelegenen Bücherei einen Besuch abzustatten? Hm, sagen wir ... nächste Woche?" Sie hörte, wie er leise bejahte, und vermied es, ihn anzusehen. Wieso konnte sie nur den Mund nicht halten. Die sollten doch verschwinden und sich hier nicht noch wohler fühlen.

Sie riss die Augen auf und schaute in das strahlende Gesicht der Heimleitung, die ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Das sofort sanfter wurde, weil sie offenbar bemerkt hatte, dass sie erschrocken war. „Gut gemacht, Eva."

Die Wärme, die von Frau Lothars Fingern ausging, beruhigte sie irgendwie, obwohl alles in ihr dagegen rebellierte. Trotzdem konnte sie nur nicken und biss sich auf die Unterlippe, weil sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Wie man es auch drehte und wendete, es war falsch, sich darüber zu freuen, dass nun aufgeregtes Flüstern durch den Raum schwirrte. Oder die Augen der Heimleitung einen warmen Ton angenommen hatten, obwohl sie nicht geahnt hatte, dass das bei grünen Iriden ging.

Genauso wenig wie es richtig war, dass sie fröstelte, als die Sozialarbeiterin die Hand zurück- und sich ihre Brust etwas zusammenzog. Weil sie die Wärme sofort vermisste. Wenn sie sich nicht schnellstens zusammenriss, würde das tragisch enden. Sie war, wer sie war, und die waren Abschaum. Die Gefühle, die sie offenbar hatten, sollten sie nicht berühren. So war es richtig.

Ihre Augen schweiften nun doch zu einem der wenigen männlichen Gesichter im Zimmer und sie spürte fast körperlich, wie sich ihre Blicke ineinander verknoteten. Wieder flutete sie Wärme, stieg in ihre Wangen, als sich in sein leuchtendes Braun so etwas wie Respekt mischte und sich seine Mundwinkel zum ersten Mal hoben, seit sie ihn kannte. So, dass ihre automatisch das Gleiche taten. Auch das war nicht richtig. Sie wusste es. Aber es ist so. Egal, wie oft ich mir sage, es sollte anders sein.

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Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWhere stories live. Discover now