14 - Verständnis

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Sein Herz würde jeden Moment seinen Brustkorb sprengen, so wie Eva vor ihm stand und ihr ganzer Körper verriet, welche Höllenqualen sie gerade litt. Er kannte diese Art von Schmerz, der die Macht hatte, die Fäuste zu ballen. Der bewirkte, dass sich die Stelle am Hals hervorhob, unter der die Schlagader verlief. Der das Rasen des eigenen Herzens abbildete. Dabei will man nur nicht zeigen, wie schwer es ist, ihm standzuhalten.

Bevor er darüber nachdenken konnte, nahm er eine der festgeballten Fäuste in seine Hände. Noch während er trocken schluckte, bemerkte er, wie ihr Blick flackerte. Er wollte ihr sagen, dass es ihm leidtat. Doch er konnte nicht. Seine Zunge schien genauso gelähmt zu sein wie seine Lunge, die kaum mehr Sauerstoff aufnehmen konnte. Der Ausdruck in ihren feinen Gesichtszügen raubte ihm die Fähigkeit, seinen Brustkorb zu heben.

„Du darfst nicht über sie reden. Niemals." Ihr zittriges Wispern und die Tatsache, dass sich in ihren Augen Tränen sammelten, bohrten sich wie scharfe Dolche in seine Brust. Dennoch versuchte sie sichtlich, sich in den Griff zu bekommen.

„Eva..."

„Nein, nicht." Er nickte. Wenn er jetzt weitersprach, würde sie die Beherrschung verlieren und das würde sie sich nicht verzeihen können. Also schwieg er und schaute in ihre blauen Augen, die weiterhin wässrig glänzten.

Sie ist keine von denen, mit denen ich schon Bekanntschaft gemacht habe. Diese Erkenntnis brachte sein Herz zum Stolpern und er musste sich zusammenreißen, die freie Hand nicht zu heben und über ihre Wange zu streichen. Stattdessen hielt er ihren Blick genauso fest, wie ihre zitternde Faust, deren Anspannung allmählich nachließ. Das Zittern blieb. „Du hast kein Recht, zu urteilen. Du weißt nicht das Geringste."

„Du auch nicht, habibti. Weißt du nichts über mich. Denkst du nur, dass du tust." Hastig biss er sich auf die Zunge, als sie erstarrte und ihr der Unterkiefer entglitt. Doch sein Flüstern schwebte zwischen ihnen und er schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, der das Prickeln in seinem Nacken hervorrief, das sein Rückgrat hinunterrieseln wollte.

Plötzlich entriss sie ihm ihre Finger und er zuckte etwas zurück, als sich Wut in ihr Gesicht ätzte. „Das muss ich auch nicht. Denn wir haben rein gar nichts miteinander zu schaffen. Nicht wirklich. Du lebst in deiner Welt. Ich in meiner. Das ist gut so."

Obwohl ihre Stimme kalt wie Eis war, bemerkte er die Panik, die sich zwischen den Zorn mischte und schluckte nochmal. Alles in ihm zog sich zusammen, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Zimmer rannte. Er wusste, dass sie nicht vor ihm davonlief, sondern vor den Gefühlen, die sie ihm offenbart hatte, ohne es zu wissen.

Trotzdem senkte er den Blick automatisch und strich sich mit zittriger Hand über die Stirn. Das war schiefgelaufen. Obwohl ... eigentlich hatte er jetzt neue Seiten an Eva entdeckt, die er vorher nicht gekannt hatte. Also konnte er das vielleicht doch als Erfolg verbuchen?

„Rasin? Was ist mit Eva los?" Er wirbelte zu Frau Lothar herum, die im Türrahmen stand und ziemlich verdutzt wirkte. „Sie ist gerade fast in mich hineingelaufen und es sah so aus, als würde sie jeden Moment losweinen. Habt ihr euch gezankt?"

„Gesa... Nein. Haben wir nicht. Glaube ich, habe ich Grenze überschritten. Habe ich versucht, mit ihr zu reden, warum sie ist müde. Ist sie wütend deswegen." Jetzt runzelte die Heimleitung die Stirn und er zuckte mit den Schultern. Weiterhin hallte Evas Schmerz in ihm wider und mischte sich mit seinem eigenen, den er sonst wegschob. Er konnte seine Vergangenheit nicht ändern.

„Bist du deswegen so niedergeschlagen, Rasin?"

Jetzt war er es, der die Stirn runzelte und Frau Lothar anstarrte. „Woher wissen Sie..."

Ein trauriges Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, ehe sie seufzte. „Das ist nicht schwer. Ich muss euch nur ansehen, verstehst du? Ihr seid wie meine Familie. Auch, wenn ich versuche, professionelle Distanz zu wahren, seid ihr Teil meines Lebens."

Er nickte und vergrub seine Hände in seiner Jeans. „Was hat Eva wütend gemacht?"

„Habe ich ihre Familie angesprochen. Ihre Mutter..." Er brach ab und bemerkte, wie Frau Lothars Blick sich von ihm losriss und sie nickte, während sie den Boden fixierte. Ihre Schultern waren nun etwas eingesunken. Dann hob sie ihr Gesicht wieder an und schaute ihn an.

„Ja, es muss ein traumatisches Erlebnis gewesen sein, sie zu verlieren. Ist es immer." Automatisch murmelte er eine Zustimmung, dann fixierte er die Sozialarbeiterin, die sich über ihr Gesicht fuhr.

„Was hat der Mann mit Evas Mama getan?" Die Worte entschlüpften seinem Mund, während Frau Lothars Blick wieder zu ihm zuckte. Er sah, wie sich ihre Gesichtszüge verschlossen, und wandte seinen Kopf ab. Sie würde es ihm nicht erklären. Doch er brannte darauf, das zu ergründen. Dann verstand er Eva sicherlich noch ein bisschen mehr.

„Ich darf es dir nicht erzählen, Rasin. Ich kann dir nur sagen, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Das macht es für Eva nicht weniger schlimm. Aber mehr darf ich nicht verraten." Interessiert musterte er die Heimleitung, die wirklich betroffen war. Denn sie stierte nun blicklos ins Leere und schien sich daran zu erinnern, was in Evas Akte stand. Das beantwortete jedoch das bohrende Drängen nicht in ihm. Dennoch wusste er, dass Frau Lothar sich an Richtlinien halten musste.

„Sollte ich nach Eva suchen." Jetzt wurde der Blick der Sozialarbeiterin wieder klar und er hatte das Gefühl, als würde sie ihn nun aufs Neue wahrnehmen. Sofort wurde ihr Gesicht sanfter und das Lächeln auf ihren Lippen erhellte die grünen Augen der Frau, ehe sie nickte. Also setzte er sich in Bewegung, bevor ihm etwas einfiel. Augenblicklich blieb er stehen. „Darf ich eine Sache fragen?"

„Natürlich. Solange ich bei der Beantwortung nicht gegen den Datenschutz verstoße, Rasin." Er murmelte eine Zustimmung und seufzte kurz, ehe er den Blick der Sozialarbeiterin suchte.

„Warum hat Eva gesagt, dass ist dieses Simmer schrecklichste Spielsimmer, das sie je gesehen hat? Sind Kinder hier sicher. Was ist falsch?" Das Leuchten, das sich abrupt in Frau Lothars Augen festsetzte, milderte das Brennen seiner Wangen etwas. Er verstand es einfach nicht. So sehr er darüber nachgedacht hatte, was sie meinte, er sah, dass die Kinder hier saubere Spielsachen und schützende vier Wände hatten.

Es erstaunte ihn, dass Frau Lothars Stimme etwas belegt klang, als sie erklärte: „Nichts ist falsch. Ihr habt beide Recht, denn ihr betrachtet dieses Zimmer aus verschiedenen Blickwinkeln. Aber es ist interessant, wie Eva empfindet. Jetzt weiß ich, wie ich an sie herankomme und sie fordern kann. Danke, Rasin."

Verwirrt nickte er, während die Heimleitung ihre Hand auf seinen Unterarm legte und ihn anstrahlte. Er hatte immer noch nicht verstanden, warum Eva das Zimmer so sauer aufstieß. Aber offenbar spielte das auch keine Rolle. Er spürte, wie Frau Lothar seinen Arm tätschelte, ehe sie ihre Finger wieder zurückzog. Gerade war er etwas überfordert. Mit den Emotionen, die Eva in ihm auslöste und der Lage, in die er sich hineinmanövriert hatte. An den Gefühlen wirst du wohl nichts ändern können. Doch die Situation kannst du auflösen.

„Dann ich suche Eva." Sein Murmeln wurde mit einem Kopfnicken von Frau Lothar quittiert, die wirklich aussah, als hätte er ihr ein Geschenk gemacht. Schnell unterdrückte er sein Kopfschütteln und wandte sich ab, um den langen Gang entlang zu laufen. Irgendwie hatte er noch mehr Fragen als zuvor. Bei jedem Puzzlestück, das er an seinen Platz setzte, ergaben sich neue Lücken.

„Oh, farasha. Gans allein?" Er riss die Augen auf und rannte ins untere Stockwerk, während ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Er hätte sie nicht aus den Augen lassen sollen! Natürlich hatte Kalim sofort die Gelegenheit genutzt, um sich an Eva heranzumachen!

Er erhaschte einen Blick auf die Situation: Eva stand an die Wand neben der Eingangstür gedrängt und ihre ganze Körperhaltung verriet, wie angespannt sie war. Ihre finster funkelnden Augen täuschten ihn nicht darüber hinweg, dass sie Angst hatte. Auch ihr vorgeschobenes Kinn führte ihn nicht in die Irre. Kalim lehnte sich breit grinsend zu ihr und hatte die Hand erhoben, um durch ihr Haar zu streichen. „Kalim!"

Die Köpfe der beiden flogen zu ihm herum und einen Sekundenbruchteil funkelten der Syrer und er sich an. Er merkte, wie ein Knurren in seiner Kehle aufstieg und stierte Kalim an, der nun mit den Augen rollte, während er die letzten Stufen der Treppe hinunterstieg. „Schlage ich vor, dass lässt du Eva in Ruhe."

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