21 - Unsicherheit

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Sie schlurfte die Treppe hinauf zur Wohnung und ächzte. Sie war fix und alle. Es hatte ewig gedauert, bis sie in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Ein Alptraum hatte den nächsten gejagt und jedes Mal war sie zitternd wachgeworden, während die dröhnenden Stimmen von unten in ihr Zimmer gedrungen waren.

Doch irgendwann muss ich so tief eingeschlafen sein, dass ich nicht mitbekommen habe, wie sich die Wirtschaft gelehrt hat und es Zeit war zu putzen. Ein Seufzen drang über ihre Lippen, als sie sich an den Moment erinnerte, an dem sie völlig geschockt auf ihr Handy geschaut und erkannt hatte, dass sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen war. Normalerweise kein Problem, denn sonst ist unten nicht so viel los. Aber natürlich haben sie gestern Abend ordentlich Rabatz gemacht.

Was wohl auch der Grund war, warum Joseph sie rüde angeschnauzt hatte, als sie ihn geweckt und gebeten hatte, sie zum Asylheim zu fahren, damit sie nicht zusätzliche Zeit verlor. Sie hatte ihm angesehen, dass er noch etwas high war, als er sich im Bett zu seiner Tusse umdrehte und ihr erklärte, sie müsse sich jetzt verpissen, weil er offenbar Taxi spielen musste.

Woraufhin Josis Schickse splitterfasernackt aufgesprungen war und sie anfunkelte. Doch als die magere Brünette sie angefaucht hatte, dass sie eine Zumutung wäre, war sie gegangen. Sie hatte die lauten Stimmen von Josi und seiner Schnepfe noch gehört, während sie in ihre Schuhe geschlüpft war. Ich hasse sie. Jedes Mal, wenn sie da ist, dröhnt er sich zu.

Seufzend steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum, ehe sie sich die Schuhe von den Füßen streifte. Jeder Muskel schmerzte, aber ihr Tag war nicht vorbei. Ihr stand noch der Haushalt bevor, den sie gestern auf heute verschoben hatte. Doch da hatte sie auch gedacht, sie müsse nicht längerbleiben, weil sie so Bockmist gebaut hatte.

Jetzt ist er zu machen, wenn ich keinen Ärger mit Vati möchte. Sie drückte die Wohnungstür auf und hörte Stimmen hinter der Wand hervordringen, die den Flur vom Wohnzimmer trennte. Sofort hielt sie inne. Wieso war Josi denn hier? Sonst war er um die Zeit unterwegs. Doch sie konnte nicht abstreiten, dass sich ein leichtes Flattern der Freude in ihr breitmachte. Ich habe ihn lieber zuhause statt auf der Straße, wo er nur mit der Ortsgruppe für Ärger sorgt. Und mit seinem Leben spielt.

Sie drückte die Tür wieder zurück ins Schloss und zog sich die Ärmel über ihre Hände, weil sie fröstelte, als das Flattern verflog und die Erschöpfung sie zurückeroberte. Sie umrundete die Wand und betrat den Raum, von dem alle anderen abgingen, wenn man vom Badezimmer absah, dessen Tür neben der Wohnungstür eingelassen war. „Hallo."

Joseph drehte den Kopf zu ihr und musterte sie, bevor sich seine Mundwinkel etwas hochzogen. Eva wusste nicht, wann sie ihn das letzte Mal ohne seine Stiefel, nur mit löchrigen Socken an den Füßen gesehen hatte. Wann er in seiner ausgebeulten Jogginghose, statt in seiner Armee-Cargohose und einem Achselshirt auf dem Sofa gelegen hatte, anstatt mit seiner dicken Bomberjacke herumzustolzieren. Immer bereit für den Kampf.

Sofort zog sich ihre Brust wieder zusammen, während sie sich daran erinnerte, dass er sich gegen eben jene auflehnte, die einen Großteil ihres momentanen Alltags bestimmten. „Na, zurück aus dem Zoo, Schwesterherz?"

„Lass das!" Hastig biss sie sich auf die Zunge, während ihr Zischen im Raum verklang. Doch Joseph kniff bereits seine Augen zusammen und taxierte sie argwöhnisch. Trocken schluckte sie gegen die plötzliche Dürre in ihrem Mund an und wich seinem Blick aus. „Ich hasse es, wenn du so über meine Arbeit sprichst."

„Deine Arbeit?! Ich wusste nicht, dass du die Strafe als deinen Lebensinhalt betitelst." Sein lauernder Unterton ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Dennoch regte sich Widerwille in ihr. Immerzu gab er sein Urteil über ihr Leben ab und hatte doch keine Ahnung. „Kochen die Parasiten dir dein Hirn schon weich?"

Sie merkte, wie ihr erst heiß und dann kalt wurde, bevor sie eilig mit dem Kopf schüttelte. Schließlich konnte sie ihm schlecht sagen, dass sie tatsächlich immer mehr zweifelte, ob die Aussagen richtig waren, nach denen sie bisher gelebt hatte. Trotzdem hatte sie plötzlich einen faden, miefigen Geschmack auf der Zunge. Josephs Blick war unterdessen hart geworden und ihre Hände wurden schwitzig. „Ich sollte dann mal. Haushalt. Der wartet."

„Jaaa. Wär auch nicht schlecht, wenn du mal wieder was ordentliches Kochen würdest. Ich kann schon keine Stullen mehr sehen." Sie hatte gerade die Hand nach der leeren Chipstüte ausgestreckt, doch jetzt funkelte sie ihren Bruder an. Ihr Unmut stieg noch, als sie Josephs hochgezogene Braue registrierte.

„Du warst den ganzen Tag zuhause, weißt du? Du hättest auch die Wäsche einschalten können. Dann hätte ich vielleicht die Zeit, was Anständiges zu kochen. So wirst du dich wohl oder übel mit belegten Broten zufriedengeben müssen. Es sei denn, du schwingst selbst den Kochlöffel."

„Ich wüsste nicht, dass mir mein Schwanz abgefallen ist."

„Und ich wüsste nicht, was verdammt nochmal dein Anhängsel mit dem Erledigen von Alltagsaufgaben zu tun hat! Statt also hier herumzublöken, was dich stört, könntest du einmal fragen, wie es mir geht, warum ich dich heute gebeten hab, mich zu fahren! Aber klar! Ich bin ja nur eine dumme Frau. Ist unwichtig, wie es der Putzfrau geht! Mehr bin ich sowieso nicht für dich und Vati!"

Wütend rannte sie an Joseph vorbei in ihr Zimmer. Sie kochte innerlich. Wie konnte er es wagen? Er wusste nicht das Geringste und trotzdem maßte er sich an, ein Urteil über sie zu sprechen! „Hey, was soll das? Hast du deine Tage oder spinnst du nur, verdammt?!"

Neue Entrüstung flutete sie und sie ballte die Fäuste und biss sich auf die Zunge. Es hatte keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Ihm zu sagen, wie sie fühlte. Stattdessen warf sie ihre Zimmertür ins Schloss und ließ sich auf ihr Bett fallen.

So schnell, wie sie gekommen war, so schnell verpuffte die Wut und sie vergrub ihr Gesicht hinter ihren Händen. Sie hatte ihn belogen. Ihren eigenen Bruder. Darüber, wie sie empfand, wenn sie im Asylheim war. Ihr Herz krampfte sich mit jedem Atemzug zusammen und es brannte schmerzhaft in ihrer Kehle. Wie sollte sie da nur herausfinden?

Tränen sammelten sich hinter ihren Lidern und sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Doch nichts besänftigte sie. Immer wieder tanzte die Erkenntnis in ihrem Kopf herum, dass sie eine beschissene Verräterin war. Sie wusste, sie musste das in den Griff bekommen. Aber wie?

Sie hörte, dass Joseph im Nebenraum rumorte und war dankbar dafür. Er war so viel nachsichtiger als ihr Vater. Hätte sie sich ihm gegenüber so respektlos verhalten, hätte das definitiv Konsequenzen gehabt. Doch du bist nicht aus dem Schneider, Eva. Wenn sie dahinterkommen, dass du eine verkackte Vaterlandsverräterin bist, weil du deine Gefühlswelt nicht im Griff hast, wird das Konsequenzen haben. Und die möchtest du dir nicht mal vorstellen.

Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter und in ihr verkrampfte sich alles noch mehr, während die Luft zusehends dünner wurde. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür und sie zuckte zusammen. Hastig wischte sie sich über die Wangen. Genau zum rechten Zeitpunkt. Denn schon ging die Tür auf.

Sie erhaschte einen Blick auf Joseph, der die Hände in seine Hosentaschen vergraben hatte und sie still ansah. Erneut sammelte sich ein dicker Kloß in ihrem Hals, der platzen wollte und sie schluckte hektisch gegen ihn an. Dann seufzte ihr Bruder, strich sich über sein kurzrasiertes Haar und riss sich von seinem Posten los. „Du bist nicht nur eine Putzfrau."

Bevor Eva es verhindern konnte, platzte der Knoten in ihrem Hals und ein Schniefen drang aus ihrem Mund. Eilig presste sie die Hand vor ihre Lippen und versuchte, den Laut dahinter zu ersticken. Josephs Brauen zuckten nun hoch und er runzelte die Stirn. Wie von Fern bemerkte Eva, dass sein Adamsapfel hoch- und runtersprang, ehe er erneut ein Seufzen vernehmen ließ.

Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWhere stories live. Discover now