Fremd - in den Köpfen der Anderen

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Schweratmend schreckte sie hoch. Es war einer der Träume, in denen sie fremd war.

Ja wirklich. Für diesen Moment tauchte sie in ein fremdes Leben ein. Sie tat nicht nur Dinge, die sie nie tun würde - nein, sie war jemand anderes, das hatte sie selbst im Spiegel gesehen.

Niemand würde ihr glaube, wie sehr sie sich erschrocken hatte, als sie jemand anderes als sich dort erblickte. Doch es war eindeutig.

Erst wenn sie aus einem dieser Träume erwachte, war sie wieder sie selbst. Dann sah sie auch wieder aus wie sie selbst. Tat wieder Dinge, mit denen sie sich identifizieren konnte.

Es war seltsam. Jedem, den sie von diesen Träumen erzählt hatte, war diese Art zu Träumen nicht bekannt. Niemand hatte sie verstanden. Sie selbst verstand es ja auch nicht.

Schließlich hatte sie auch normale Träume, in denen sie sie selbst war. Aber manchmal eben auch nicht.

Sie zog ihr kleines, schwarzes Büchlein hervor und notierte sich grob, was sie gesehen hatte.

Irgendwann, als diese Art zu Träumen regelmäßiger wurde, hatte sie beschlossen, diese festzuhalten - nur kurz beschreiben, was passiert war, mehr nicht.

Wer weiß, was man daraus noch machen könnte.

Die Jahre verstrichen und das Buch wurde voller. Ebeso ihr Kopf.

Ihre Nächte wurden länger. Gequält von Gedanken und Ideen fiel der Schlaf immer spärlicher und unzureichender aus.

Da war dieses Mädchen - dieser Fluch. Aber sie war nicht allein, da war ja noch so viel mehr.

Unbekannte Welten, Kriege und Schicksale, welche sie immer ausgeprägter zu sehen bekam.

Immer öfter, gerade, wenn sie ihre Augen schließen wollte, sah sie die Qual, die Liebe - das Leben der Anderen. Es war, als wäre sie der Zeuge ihrer Taten, der Leiter ihrer Wege ... ja vielleicht sogar die, welche ihr Ende festmachen konnte.

Immer mehr Leben unter ihrer Hand, immer mehr Leben, die sie beschäftigten und wach hielten.

Was sollte sie damit anfangen? Wohin mit den unzähligen Geschichten, welche sich in ihrem Kopf stauten?

Und dann, eines Nachts, erschien ihr die Lösung, die Antwort, auf ihre Fragen.

Wieder einmal wollte sie schlafen, wieder wurde sie daran gehindert. Doch dieses Mal von ihm.

Seine Geschichte war der Schlüssel. Er bewegte sie dazu, zum Stift zu greifen und zu schreiben. Sein Ende, war das Erste, dass sie schreiben sollte.

Der Effekt war atemberaubend. Wie in Trance schrieb sie alles, was er ihr offenbarte, nieder. Und kaum hatte sie den letzten Punkt gesetzt, klärte sich ihr Kopf.

Es wurde so ruhig.

Diese Nacht schlief sie so gut, wie lange nicht mehr. Alles aufzuschreiben war eine wahre Befreiung.

Also wiederholte sie es. Kaum sah sie ein Lebensaussschnittt, griff sie zum Stift.

Das Schreiben brachte auch neue Ideen auf, neue Geschichten, die sich entwickelten.

Und so schrieb und schrieb sie, um ihren Kopf so frei wie möglich zu halten.

Welten entstanden, Schicksale berührten, die Geschichten häuften sich ... und sie?

Sie saß immer noch am Schreibtisch, versunken in ihren Träumen, in den Welten, die ihr erschienen - alles im Körper der Anderen.

Ja, in diesen Momenten war sie wieder fremd.

SammelsuriumWhere stories live. Discover now