Kapitel 2

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Ich war außerstande mich zu rühren. Starrte entsetzt auf das Büchlein in meiner Hand und spürte auf einmal ein merkwürdiges Kribbeln in meinen Fingern, das sich von dort auf die Haut meines ganzen Körpers ausbreitete. Nicht direkt schmerzhaft, aber genauso irritierend wie die Tatsache, dass die Tagebuchschreiberin den gleichen Namen trug wie ich. Mit einem gewaltsamen Ruck löste ich mich aus der Erstarrung und warf das Tagebuch von mir. Es landete mit einem fast patzig klingenden Ton auf dem Holzfußboden direkt neben den Fransen des Teppichs. Ein Zufall war das, was auch sonst!

Doch warum passte mir das Dirndl wie angegossen? Und wieso war ich an diesem merkwürdigen Ort gelandet? Im gleichen Moment realisierte ich erleichtert, dass jegliches Kribbeln verschwunden war. Okay... Ich atmete tief ein und aus. Eine Sinnestäuschung, mehr nicht. Wahrscheinlich hatte ich auch den Namen falsch gelesen und die Frau hieß ganz anders. Mit aufkeimender Hoffnung bückte ich mich erneut nach dem Buch und nahm es hoch. Doch die Buchstaben waren von unmissverständlicher Klarheit. Ich hatte mich nicht verlesen.

Die Brust wurde mir eng und vergeblich versuche ich den Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, hinunterzuschlucken. Es war, als spürte mein Körper bereits etwas, das mein Geist noch nicht zu erfassen vermochte. So weit ich wusste, gab es keine andere Lena – beziehungsweise Magdalena – Köhler in unserer Verwandtschaft. Meine Tanten, Oma und Uroma hießen anders. Mein Opa hatte eine Halbschwester gehabt, die ich aber nie kennengelernt hatte. Sie war bereits früh gestorben und er hatte kaum von ihr gesprochen. Allerdings hatte sie keinesfalls Magdalena geheißen. Sondern etwas mit E..., ich knetete grübelnd meine Nase, ... Ena. Ja genau, Ena hatte sie geheißen... Meine Finger verharrten und ich blinzelte ein paar Mal. Ließ meine Hand zum Kinn hinunterrutschten und starrte in den Raum hinein, während meine Lippen leicht auseinanderglitten. Flüsternd formten sich die Worte: Magdalena. Ena.

Also das war jetzt krass. Hielt ich somit nun das Tagebuch meiner Großtante in den Händen? Ein wirklich merkwürdiger Zufall, der mich ausgerechnet hier hatte landen lassen. Gleichzeitig durchfuhr mich Erleichterung und ließ das Fünkchen Furcht, das sich beständig, aber unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, erfreulicherweise auf die Größe eines Sandkorns zusammenschrumpfen. Ich merkte, wie sich meine Mundwinkel zu einem Schmunzeln verzogen. Du bist aber auch echt durch den Wind, Lena, schalt ich mich und schüttelte belustigt meinen Kopf. Urlaubsreif. Bestimmt gab es auch für dieses merkwürdige Zimmer und mein nicht auffindbares Handy eine ganz einfache Erklärung. Und die würde ich nicht finden, wenn ich hier im Zimmer versauerte.

Mit neu erwachter Energie ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen, um irgendein Schuhwerk zu entdecken. Gelenkig wie schon lange nicht mehr tänzelte ich über die Dielen und gewahrte schließlich in der Ecke zwischen Schrank und Tür ein paar klobige, überaus hässliche Stiefel, über die nachlässig zwei Strümpfe gelegt worden waren. Ich seufzte leise. Etwas anderes gab es hier wohl nicht. Sobald ich ein wenig Klarheit in die Situation gebracht hatte, musste ich mich dringend auf die Suche nach meinem Koffer machen. Ich ignorierte die Nervosität, die mich erneut zu überfallen drohte, streifte hastig die Strümpfe über meine nackten Füße und fuhr entschlossen in die Schuhe hinein. Sie passten wie angegossen.

Ich spürte, wie sich meine Augen unwillkürlich weiteten, als ich den Schürsenkel durch die Löcher pfriemelte. Meine Fingernägel waren unlackiert. Und dann begannen meine Finger unversehens zu zittern - am Ringfinger meiner rechten Hand prangte unübersehbar ein schmaler, goldener Ring. Unfähig, den Blick von dem mir völlig unbekannten Ehering zu lösen, biss mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Was zum Henker... ich war seit langem geschieden!

Eine leise Ahnung bemächtigte sich meiner, die ich rigoros von mir zu schieben versuchte. Es konnte nicht sein... Irgendeine unsichtbare Kraft presste sich auf meine Brust und ließ mich nach Luft schnappen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dennoch trat ich auf den Spiegel zu, mit Schritten, als watete ich durch tiefes Wasser. Warf beklommen einen Blick hinein. Und schlug die Hände vor den Mund.

Das Spiegelbild, das mir geschockt entgegenstarrte, war ich – und doch wieder nicht. Verschwunden war die trockene Haut, der ich dauernd mit Tiegeln und Cremes Herr zu werden versuchte. Verschwunden war die kleine Narbe auf der rechten Stirnseite, die mir ein Schaukelbrett verpasst hatte, als ich versucht hatte, meine Tochter abzubremsen. Und verschwunden waren die ersten Fältchen um die Augen, die ich normalerweise gut unter meinem Make-up zu verbergen wusste. Stattdessen präsentierte sich mir das Bild einer verschreckten, jungen Frau, die eine unübersehbare Ähnlichkeit mit den Fotos meines früheren Selbst aufwies.

Ich fand keine Worte für das, was mir gerade widerfuhr. Sekunden dehnten sich zu Momenten, wurden zu Minuten. Aus weiter Ferne war das dumpfe Muhen einer Kuh zu vernehmen. Dann das wütende Brummen einer Fliege, die sich offenbar im Vorhang verfangen hatte. Die Vögel vor dem Fenster zwitscherten weiterhin unablässig und hatten keine Ahnung davon, dass meine geordnete, überschaubare Welt gerade in sich zusammengebrochen war. Denn mit einem Schlag hatte mich die Realität der ganzen Situation eingeholt – Ich, Lena, Mutter zweier Kinder am Beginn der Pubertät, befand mich nicht aufgrund eines merkwürdigen Buchungsfehlers in diesem altmodischen Zimmer mitten in den Bergen wieder. Sondern unvermittelt hatte ich mich in die Tagebuchschreiberin verwandelt: eine jungen Frau, die offensichtlich verheiratet, aber kinderlos war und aus irgendwelchen diffusen Gründen zur Erholung in den Bergen weilte... und noch dazu meine Großtante war!

Doch das war unmöglich! So etwas gab es nicht! Man konnte nicht einfach einen Sprung in die Vergangenheit machen. Wir waren schließlich nicht bei Zurück in die Zukunft, diesem so herrlichen Film, in der Michael J. Fox in die Zeit reiste, als seine Eltern noch jung waren. Ein Schluchzen bildete sich in meiner Kehle und meine Finger krallten sich in die kühle Keramik der Waschschüssel.

Ich wusste nicht, welchen Umständen ich es zu verdanken hatte, in Magdalenas Leben gelandet zu sein. Noch viel weniger wusste ich, wie ich wieder in mein Leben zurückkehren konnte. In das normale Leben einer alleinerziehenden Mutter inmitten einer Großstadt, die sich über die Arbeit ereiferte, mit ihren Kindern bescheuerte Streitereien führte und genervt die Computerprobleme ihrer Eltern löste. Aber gerade jetzt erschien mir dieser alltägliche Wahnsinn kostbarer denn je. Um nichts in der Welt hätte ich ihn eintauschen mögen.

Und doch war ich hier, in einer Zeit, dich ich nicht kannte. Verzweifelt stieß ich mich von dem Waschbecken ab und machte ein paar ziellose Schritte durch den Raum. Fuhr mir fahrig mit der Hand durch das Haar. Sank auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Vom Nacken aus spürte ich einen Schmerz bis hin zu meinem Kopf ziehen und unkontrolliert begann ich zu zittern.

Kurz darauf kam mir die gestrige Unterhaltung mit Marc in den Sinn. Er an meiner Stelle wäre vermutlich begeistert davon, in irgendeiner anderen Zeit gelandet zu sein. Verflucht, warum passierte mir das und nicht ihm? Welche Schicksalsgöttin hatte ich gegen mich aufgebracht? Ärger keimte langsam in mir auf. Verdammt, ich wollte das nicht!

Abrupt sah ich auf und mein Blick fiel auf das Tagebuch, das unschuldig auf dieser bescheuerten karierten Bettdecke lag. Ohne nachzudenken zog ich es an mich und schleuderte es mit aller Kraft in den Raum hinein, wo es mit einem lauten Poltern gegen den Schrank knallte. Ich war nicht neugierig auf andere Zeiten! Brauchte das nicht als Abwechslung vom Alltag. Wollte gar nicht mehr wissen, wie Magdalenas Reise in den Urlaub weitergegangen war, die ich vorhin noch so spannend zu lesen gefunden hatte.

Denn langsam schlängelte sich die Erinnerung an die durchgestrichenen Zeilen in mein Bewusstsein. Mit aufgerissenen Augen starrte ich auf das ein paar Meter entfernt liegende Buch, als wäre es ein Raubtier, das mich anfallen könnte. Ich hatte keine Ahnung, was Magdalena versucht haben könnte zu verbergen. Was, wenn es um mehr ging als den Wunsch, Zeilen zurückzunehmen, die lediglich eine Peinlichkeit enthüllt hätten? Und vor allem: vor wem wollte sie ihre Ursprungsgedanken verheimlichen?

Ich meine – es war ein Tagebuch. Etwas, dessen persönlicher Inhalt normalerweise von anderen Menschen respektiert wurde. Wenn Magdalena nicht auf dessen Unantastbarkeit vertraute, was bedeutete das dann? War es nur etwas Persönliches oder...? Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter. In welcher Zeit, verflucht, war ich bloß gelandet?

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Where stories live. Discover now