Kapitel 14

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Statt des schwarzen Mercedes, den ich erwartet hatte, hielt im Hof ein helles Cabrio mit offenem Verdeck. Frau Huber schürzte die Lippen, als sie sah, wer aus dem Wagen stieg, sagte aber nichts. Ob sie wusste, wer sich gerade in ihrem Hof befand? Ihre plötzliche Wortkargheit war jedenfalls nicht zu übersehen. Ich teilte ihr meine Tagespläne mit und betrat dann den sonnenüberschienen Hof im gleichen Moment, wie Eva vor der Tür auftauchte.

„Servus Frau Huber, guten Morgen Lena", grüßte die Blondine mit einem Strahlen auf dem Gesicht, das der Sonne Konkurrenz zu machen schien. Frau Huber hingegen ließ nicht das geringste Bisschen ihrer ansonsten überschwänglichen Art hervorblitzen und grüßte nur mit einem förmlichen Kopfnicken.

„Fräulein Braun."

Auch ich empfand Evas Fröhlichkeit gerade als irgendwie unangenehm. Während sie ein sorgloses Leben führte, von dem ihre modische Kleidung und ihr unbeschwertes Gehabe Zeugnis ablegten, wurde die jüdische Bevölkerung seit langem diskriminiert und Regimegegner ins KZ gesteckt. Doch ich zwang mich zu einer lächelnden Begrüßung und stellte dann fest, dass heute kein Chauffeur zugegen war.

Überrascht sah ich zu Eva hin. Ich hatte nicht erwartet, dass sie selbst Auto fuhr. Während sie sich geschmeidig hinter das Steuer bugsierte, ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Das Innere des Wagens roch genauso neu wie es der schwarze Mercedes getan hatte und der Motor schnurrte leise, als Eva ihn anließ. Auch ohne eine Autokennerin zu sein, musste ich wider Willen zugeben, dass das Cabrio selbst für mich etwas Ansprechendes hatte.

Einen Augenblick später rollten wir über die unbefestigte Straße, die sich den Berg hinabwand und sich nach längerer Zeit mit einer asphaltierten Straße vereinte. Hohe Tannen standen beiderseits der Straße und verbargen die Berchtesgadener Bergwelt meinen Blicken.

Eva war eine umsichtige Autofahrerin. Ohne sich an meiner Einsilbigkeit zu stören, berichtete sie dabei lebhaft von ihrem früheren Leben in München, wo sie anscheinend ein Häuschen besaß, in dem sie früher oft Freundinnen zu Besuch gehabt hatte.

„Kennen Sie München?", fragte sie schließlich und warf mir einen neugierigen Blick zu.

„Ich war mal da", gab ich zu, ohne weiter auszuholen. Meine Erfahrungen und Erinnerungen an die Stadt hätten ohnehin nicht zu den ihren gepasst. Ich hatte seinerzeit auch das Konzentrationslager Dachau besucht. Was Eva wohl dazu sagen würde? Wusste sie, was dort passierte? Kritisch beobachtete ich sie von der Seite. Der Fahrwind blies ihr ein paar vorwitzige Locken, denen es gelungen war, sich unter dem Haarband hervorzuwinden, aus dem Gesicht und gekonnt schlug sie in einer scharfen Kurve das Lenkrad herum.

Einen Moment lang gab ich mich dem kühlenden Wind hin, der mein Gesicht streifte. Ließ mich in die Vollkommenheit eines Sommertages sinken, der so viel an sich hatte, was ihn zu einem Genuss machte. Allein die Gesellschaft ließ zu wünschen übrig. Hätte doch nur Lu an Evas Stelle neben mir gesessen... Doch er war wohl schon längst im Zug nach München. Ich schloss die Augen und gab meiner Fantasie ein wenig Raum.

Die plötzliche Helligkeit, die ich selbst hinter den geschlossenen Lidern spürte, veranlasste mich aufzublicken. Wir hatten den Bereich der tannenumsäumten Serpentinen hinter uns gelassen und steuerten eine Art Schnellstraße an, auf der deutlich mehr Autos dahinrollten. Eva war inzwischen dazu übergegangen, über Bücher zu sprechen, obwohl sie, wie sie lachend zugab, auch unheimlich gern Filmzeitschriften studierte.

„Meine Lieblingsbücher waren als Kind die Nesthäkchenreihe. Die habe ich verschlungen."

„Die mochte ich auch", gab ich schmunzelnd und nicht ganz wahrheitsgetreu zu, denn ich dachte stattdessen dabei an die Filmreihe, die ich vor einer Ewigkeit einmal gesehen hatte. Aber hierzu konnten wir uns dann zumindest ein wenig austauschen. Ob die Serie auch etwas für Emily wäre?

Ich biss mir auf die Zunge, als mich unvorbereitet Traurigkeit überfiel. Ich sah Emis fröhliches Lachen vor mir und vermisste sogar ihr freches Mundwerk, das bereits die kommenden Teenagerjahre ankündigte. Genau wie das Kitzeln von Noahs Lockenkopf, wenn er sich an mich schmiegte, während ich ihm Harry Potter vorlas. Rasch sah ich zum Fenster hinaus, wo die vorbeigleitende Landschaft mit einem Mal verschwamm.

Mein Magen fühlte sich an, als wäre er mit einem Stein beschwert. Doch ich durfte mir nichts anmerken lassen. Verstohlen wischte ich mir daher mit den Fingerspitzen über die Wange. Vielleicht führte der einzige Weg zurück zu meinen Kindern tatsächlich über das Unvorstellbare...

So oft sich die Straße ostwärts wand, schimmerte uns das helle Blau eines Sees entgegen und schon bald verdichtete sich die wachsende Ansammlung von Häusern zu einer kleinen Ortschaft. Fußgänger flanierten einen Weg entlang, der von Blumenbeeten eingefasst war. Sie trugen vielfach Strohhüte auf dem Kopf und einen prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken: Sommerfrischler auf ihrem Weg zum Strand.

Wenig später raste ein dunkler Wagen an uns vorbei und blieb etwa hundert Meter von uns entfernt quer auf der Straße stehen, so dass Eva gezwungen war zu bremsen. Zwei Männer, die an ihrer Uniform unschwer als Polizisten zu erkennen waren, sprangen heraus. Längst hatte sich die Menschenmenge auf dem Gehweg verdichtet und eine gewisse Unruhe schien sich aller Anwesenden bemächtigt zu haben, die die warme Luft nahezu vibrieren ließ. Plötzlich lautes Geschrei.

„Das ist er!"

„Haltet ihn!"

Erschrocken starrte ich auf die Szene, die sich vor uns abspielte. Ein junger, blondgelockter Mann sprang über den Zaun, der den Fußweg von einer Grünanlage trennte, und versuchte, sich zwischen den Menschen hindurchzuschlängeln. Ein fast panischer Ausdruck lag auf seinen Zügen, doch die Blicke der Menschen, die ihm folgten, waren weit davon entfernt, Mitleid zu zeigen.

„Hiergeblieben, Bürschchen!" raunzte ein bulliger Kerl und zog den flüchtenden Mann so heftig am Arm herum, dass dieser beinahe auf dem Boden gelandet wäre. Einen Augenblick später waren die Polizisten zur Stelle und nahmen den jungen Mann Seit an Seit in Gewahrsam. Wie eine leblose Puppe hing er auf einmal in ihrem Griff, während von allen Seiten Beleidigungen und Pöbeleien auf ihn niederregneten.

„Verdammter Drecksjude!"

„Dieses Pack wird immer unverschämter. Hat sich in die Badeanstalt schleichen wollen."

„Man sollte sie alle dahin schicken, wo der Pfeffer wächst. Auf nimmerwiedersehen."

„Elender Saujude! Hände weg von unseren Frauen!"

Trotz meines Entsetzens gelang es mir nicht, den Blick abzuwenden. Meine Finger krallten sich in die Karosserie des Cabrios, bis die Knöchel hervortraten. Die Polizisten zerrten den Gefassten indessen grob zum Auto hinüber und einer der beiden wandte sich mit grimmigem Ton an die Menge.

„Keine Sorge, dafür werden wir schon sorgen."

Unsanft wurde der aufgegriffene Mann in den Polizeiwagen gestoßen und das letzte, was von ihm zu sehen war, waren seine schreckensgeweiteten Augen. Ich wagte kaum daran zu denken, welches Schicksal ihm nun drohte. Augenblicke später schlugen die Türen zu, der dunkle Wagen fuhr an und gab die Sicht auf den Eingang zur Badeanstalt frei. Unübersehbar prangte dort ein Schild:

Juden nicht erwünscht.

Willkommen in der Realität, Lena, dachte ich geschockt und warf einen Blick auf meine Begleiterin, die das Geschehen nicht kommentierte. Empfand sie gar nichts dabei? Doch Eva ließ lediglich den Motor an und teilte nur wenig später in einem Ton, dem man keine Emotion entnahm, mit:

„Da, wo wir hinfahren, gibt es keine Badeanstalt. Da werden wir so eine Szene zum Glück nicht erleben."

Obwohl eigentlich nichts anderes zu erwarten gewesen war, ließ mich diese Einstellung dennoch fassungslos zurück. Ich hielt jedoch den Mund, denn es erschien nicht weise, ausgerechnet Hitlers Geliebten meine Ansicht mitzuteilen. Doch das beobachtete Geschehen hatte die Wirklichkeit, die aus mehr als einem abgeschiedenen Bauernhof bestand, überaus als deutlich gemacht. Eine Wirklichkeit, die man nicht einfach so hinnehmen konnte...

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Where stories live. Discover now