Kapitel 12

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Ruhelos wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Es war erst meine zweite Nacht in diesem spartanischen Zimmer und der Vergangenheit und doch kam es mir vor, als wäre bereits eine Ewigkeit vergangen. So viel war in den vergangenen zwei Tagen passiert. Wer hätte gedacht, dass ich mehrere Jahrzehnte vor meiner Zeit einen Mann finden würde, der mir mehr als nur sympathisch war? Und das, obwohl ich in den vergangenen Jahren seit der Scheidung gar keinen Partner gesucht hatte.

Job und Kinder beanspruchten genug meiner Zeit und die wenigen freien Stunden waren dann meinen Freunden gewidmet beziehungsweise mir selbst. Ich seufzte tief und schlug die Augen auf, um in das Dunkel eines Zimmers zu spähen, das nicht das meine war. Das Fenster war als ein fahles Viereck zu erkennen, welches wegen fehlender Jalousien den geringsten Lichteinfall hereinließ. Offenbar war der Mond hell genug, um die Dunkelheit des einsamen Bergortes zu durchdringen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, draußen im Hof Laternen gesehen zu haben.

Zu Hause hätte ich mich in meinem Schlafzimmer befunden, durch ein Rollo abgeschirmt vom Lärm der Straße und der Helligkeit einer Großstadt, und den Schlaf des Gerechten genossen. Nachdem ich zuvor wie jeden Abend nach Noah und Emily geschaut hätte. Was mochten die beiden in ihren Ferien jetzt wohl tun?

Würde Em ihren Vater dazu bringen, mit ihr Fußball zu spielen? Würde Nils akzeptieren, dass Noah ein schüchternes Naturell als er selbst besaß, noch mehr als früher? Noah liebte seinen Papa, aber manchmal war ihm dieser zu trubelig... er kam mehr nach mir selbst. Mein Gott, was, wenn ich nie mehr zurück in die Gegenwart käme? Meine Brust schien plötzlich zu verkrampfen und ein kurzer Schmerz durchfuhr mich. Meine Kinder mutterlos – das mochte ich mir gar nicht vorstellen!

Hatte vielleicht ein Körpertausch stattgefunden, wie in einem dieser unzähligen Filme, die es gab? In der Noah und Emily zwar äußerlich mit ihrer Mutter, aber ansonsten mit der in der Vergangenheit geborenen Magdalena zu tun hätten? Ich schnaufte leise und richtete mich auf. Würden sie dies überhaupt bemerken, lediglich per Telefon?

Ich hingegen hatte hier Glück, dass ich nur auf Leute traf, die Magdalena vorher gar nicht gekannt hatten. Erleichtert fuhr ich mir durch die ungewohnt fülligen Haare. Ich konnte das unbeschriebene Blatt, das ich für die Menschen hier darstellte, vollkritzeln mit dem, was ich dachte und sagte und wie ich mich verhielt – und niemand würde wissen, dass dies Lena zuzuschreiben war und nicht Magdalena.

Was gleichzeitig hieß... Doch hastig drehte ich den Kopf in die stockdunkle Mitte des Zimmers, dort, wo ich den Blumenstrauß auf dem Tisch wusste. Und wie beabsichtigt wanderten meine Gedanken dadurch unvermittelt zu Ludwig – Lu. Eine angenehme Wärme durchströmte mich. Wir hatten die dann tatsächlich noch eingetretenen Regenstunden gut zu nutzen gewusst, nur eine Tür weiter, gegenüber meinem eigenen Zimmer. Womit unsere Annäherung dann effektiv Frau Hubers Blicken entzogen gewesen war.

Vermutlich war mein Verhalten überaus dreist, in Anbetracht der 40er Jahre, in denen wir uns befanden. Doch ich war ein Kind meiner Zeit und warum hätte ich mir etwas versagen sollen, wonach uns beiden der Sinn stand? Sofern mich Lu nun für ein leichtes Mädchen oder eine Ehebrecherin hielt – so what? Das, was zwischen uns entstanden war, hatte ohnehin keine Zukunft. Meine Haltung sackte ein wenig in sich zusammen und ich starrte auf diese verflucht altmodische Bettdecke, auf der ich mittlerweile wieder die hellen Kästchen zu erkennen vermochte.

Wenn ich der Ehrlichkeit Raum gab, dann war mir dieses zarte Pflänzchen Zuneigung – Liebe gar? – längst nicht so egal, wie ich nach außen hin vorgab. Schon jetzt spürte ich Bedauern darüber, dass ich Lu ein paar Tage lang nicht sehen würde. Er hatte so eine wunderbare Art, Dinge in Worte zu fassen und besaß eine unglaubliche Empathie, gepaart mit einer behutsam geäußerten Neugier und einer vorsichtigen Direktheit. Sowie die Fähigkeit, Dinge von verschiedenen Seiten zu beleuchten und die Offenheit, auch andere Meinungen gelten zu lassen. Und ausgerechnet diesen Menschen log ich beharrlich an...

Ich zog die Beine an den Körper, umfasste meine Knie und spürte, wie mir eine Träne über die Wange rollte. Denn natürlich war Lu meine Reserviertheit gegenüber Eva nicht entgangen und er hatte mich später dazu angesprochen. Hatte wissen wollen, ungemein vorsichtig formuliert, ob ich etwas zu befürchten hätte. Und mir dann sofort versichert, dass ihm dies nichts ausmachen würde.

„Nicht das, was du denkst", hatte ich hilflos gemurmelt und war gleichzeitig unheimlich erleichtert darüber gewesen, dass er dem Rassenhass offenbar nichts abgewinnen konnte. Was zu der Zeit ja keine Selbstverständlichkeit gewesen war.

„Was ist es dann? Denn ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt, Lena", hatte er anschließend mitfühlend gesagt und meine Finger behutsam in beide Hände genommen. „Manchmal hilft es, darüber zu reden."

Noch immer durchfuhr mich ein Staunen darüber, dass wir in der kurzen Zeit unseres Kennenlernens schon so vertraut miteinander geworden waren. Was wohl nur mit einer Seelenverwandtschaft erklärt werden konnte. Dennoch hatte ich natürlich nichts gesagt, sondern ihn damit vertröstet, dass ich noch nicht so weit wäre. Meine Finger griffen nach dem Deckbett und kneteten es so intensiv, als würde ich dafür bezahlt

Was sollte das nur werden?

Meine geliebten Kinder in der Gegenwart.

Eine aufblühende Liebe in der Vergangenheit.

Und ich mittendrin.

Aber eigentlich war gar keine Entscheidung zu treffen. Mir waren in Sachen Zeitreise ohnehin die Hände gebunden. Ich war im Jahr 1938 gefangen, ohne eine Möglichkeit zu haben, daraus zu entkommen. Unvermittelt wurden meine Augen feucht und ein paar salzige Tränen rannen über meine Wangen, als mir die Bilder meiner Kinder plötzlich ganz deutlich vor Augen standen. Verflucht nochmal, es musste doch eine Möglichkeit geben zurückzukehren. Es musste einfach!

Ich ließ die Decke los und drückte die Fingerknöchel gegen meine Lippen. Vielleicht war es kein Zufall, dass ich hier gelandet war. Vielleicht hatte ich eine Aufgabe zu erfüllen... Ein Keuchen entfuhr mir, als sich der Gedanke, den ich seit heute Morgen erfolgreich verdrängte, nun unaufhaltsam in die vorderste Reihe meiner Gedanken schob. Nein!

Ich schüttelte den Kopf, sprang aus dem Bett und spurtete fast zum Waschbecken hinüber, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Meine Hand zitterte, als ich es zum Mund führte. Wassertropfen benetzten meine Mundwinkel und liefen von dort hinunter bis zum Kinn, wo sie schließlich auf meine Brust tropften. Nein, das war unmöglich! Undurchführbar. Absoluter Selbstmord. Bebend griff ich nach dem Rand des Waschbeckens, während Übelkeit in mir aufwallte. Ich war nicht der Stoff, aus dem Helden gestrickt sind!

Und dennoch... ich wusste, was passieren würde. Wusste, wie die Welt in sieben Jahren aussehen würde. Wusste, wie sehr weltweit Menschen leiden würden, wie viele Millionen von Toten es geben würde. Und hatte möglicherweise einen Zugang zu dem Mann, der all dies verantwortete. Konnte ich da wirklich tatenlos danebenstehen und zusehen, wie der Gang der Geschichte seinen verhängnisvollen Lauf nahm?

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Where stories live. Discover now