Kapitel 7

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Sein schwarzes Haar war akkurat gescheitelt und der unverwechselbare Oberlippenbart formvollendet gestutzt. Anders als in Filmen, die ich von ihm gesehen hatte, trug er einen unauffälligen grauen Anzug mit weißem Hemd und dunkler Krawatte. Seine Stimme war leise, ohne den penetranten Tonfall, den man von seinen Reden gewohnt war, aber sie hatte einen wenig ansprechenden Klang. Er war inzwischen in rigider Haltung auf mich zugetreten und hatte mich unter Nennung meines Nachnamens mit einem kühlen Kopfnicken begrüßt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Ich konnte den Verursacher des zweiten Weltkrieges und des Völkermordes an den Juden nur schockiert anstarren. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment in sich zusammensacken. Indessen rasten mir die Gedanken durch den Kopf. Wie, um Himmels willen, sollte ich mich unauffällig verhalten? Die Antwort lag eigentlich auf der Hand, doch natürlich hatte ich keine Ahnung, wie man die Hand richtig zum Gruß erhob. Noch wollte mir ein Heil Hitler über die Lippen kommen.

Zum Glück schien er meine Erstarrung als überwältigende Ehrfurcht zu interpretieren, denn er sagte nur milde:

"Fräulein Braun hat mir bereits von Ihrem Malheur berichtet." Sein Blick flog zu Eva hinüber, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte und die Kleine an der Hand hielt. "Hat Herr Heinrichs bereits nach Fräulein Köhler geschaut?"

"Ja, mein Führer."

Evas Gebaren war eine kuriose Mischung aus Ehrerbietung und Selbstsicherheit. Kopf und Schultern waren leicht geneigt, aber ihre Augen kennzeichnete ein keckes Blitzen, das mich fragen ließ, in welchem Verhältnis sie zu Hitler stand. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hatte Hitler nicht eine Geliebte besessen?

Mit einem Mal ergab alles einen Sinn: der Chauffeur und sein Zögern, mich mitzunehmen. Evas anfängliche Lockerheit und dann plötzliche Anspannung. Wahrscheinlich war Hitler unerwartet hier aufgetaucht. Aber wieso konnte sie dem Chauffeur und dem Hausmädchen Anweisungen erteilen?

Aber egal. Ich hatte ja ganz andere Probleme! Wie sollte ich nur ein Abendessen mit dem schlimmsten Menschen, den ich mir vorstellen konnte, überstehen? Und wie, bitte, konnte man eigentlich die Geliebte dieses Mannes sein?! Eva hatte einen angenehmen Eindruck auf mich gemacht. Aber dieser Fakt ließ sie auf meine Sympathieskala ziemlich weit nach unten rutschen.

Zum Glück zeigte Hitler kein gesteigertes Interesse an mir, sondern hatte sich längst abgewandt. Ich atmete hörbar aus, was mir seitens Eva ein Schmunzeln bescherte.

„Sie haben den Berghof vorher nicht erkannt, richtig?", stellte sie zutreffend fest. „Tut mir leid, dass ich Sie im Unklaren gelassen habe."

Doch ihr fast schon spitzbübisches Lächeln verriet, dass Eva die Entschuldigung nicht unbedingt ernst meinte. „Aber machen Sie sich keine Gedanken, ich habe ihm erzählt, wie wir aufeinandergestoßen sind."

Ihr Blick flog rasch zu Hitler hin, der sich bereits wieder im Gespräch mit einem der Herren befand. Rasch schob sie hinterher:

„Ich bin seine Privatsekretärin, wenn er auf dem Berghof weilt. Aber ich wusste nicht, dass er heute kommt, sonst wäre ich selbstverständlich hier geblieben."

Eine leichte Verklärung breitete sich auf ihre Züge aus, als ihr Blick auf dem schwarzhaarigen Mann lag, der so viel Leid in die Welt gebracht hatte. Privatsekretärin - wer's glaubt, dachte ich leicht spöttisch, bevor mir ein furchterregender Gedanke kam. Was, wenn Hitler wissen wollte, warum ich mich heute hier in dieser Gegend befunden hatte? Bestimmt waren die Zufahrten alle gut gesichert, so dass man nicht einfach hierherspazieren konnte. Der Mann war immerhin Reichskanzler. Vermutlich war es nur durch meine Querfeldein-Aktion möglich geworden.

Und – ich begann unwillkürlich zu zittern – was, wenn er Erkundigungen über mich einzog? Was würde er über meine Vorfahren herausfinden? Waren sie das gewesen, was er als rein arisch bezeichnet hätte? Oh Gott, ich war hier wirklich direkt in der Höhle des Löwen gelandet.

„Komm jetzt, Irmi. Geh mit Franziska! Es wird Zeit fürs Bett! Deine Geschwister sind schon längst zu Hause."

Die strenge Stimme gehörte einer braunhaarigen Frau mit im Nacken hochgesteckten Haaren, die ihre kleine Tochter von Eva löste und sie zu ihrem Kindermädchen hinschob. Bevor Eva uns miteinander bekannt machen konnte, entstand eine leichte Unruhe am Tisch. Hitler setzte sich und alle beeilten sich, es ihm gleichzutun. Mit glühenden Wangen folgte ich Eva und ließ mich steif neben ihr nieder.

Das ganze Abendessen hindurch wagte ich kaum aufzusehen und blieb mit Ausnahme einiger weniger Fragen, die direkt an mich gerichtet wurden, ausgesprochen wortkarg. Der Gedanke an Marc und die Fragen, die er mir stellen würde, hielten mich aufrecht und lenkten mich von meiner Situation ab. Ich lauschte den Gesprächsinhalten der anderen, die sich wahlweise um Filme oder irgendwelche Bauvorhaben drehten, und wartete ungeduldig darauf, dass die Mahlzeit ihr Ende fand.

Die ganze Gesellschaft wirkte erstaunlich entspannt miteinander und man merkte, dass sich alle Anwesenden sehr vertraut waren. Doch mit dem Gedanken daran, was hier womöglich für Entscheidungen gefällt werden würden und wieviel gerade auch die Frauen davon mitbekämen, wurde mir buchstäblich schlecht. Wie konnten diese Leute nur so fröhlich sein und sich verhalten, als wären sie eine große Familie und dabei gleichzeitig Pläne schmieden, wie das jüdische Volk vernichtet und ein Weltkrieg begonnen würde?

Ich brachte daher kaum einen Bissen herunter und hielt mich an meinem Glas Wasser fest. Alkohol gab es ohnehin nicht, wie ich bemerkte, was mir durchaus recht war. War es doch das Wichtigste, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Nach einer Ewigkeit wurde die Abendtafel für beendet erklärt. Zu meiner Erleichterung zog sich Hitler aus der Essstube zurück, ohne mich noch einmal anzusprechen. Eva und ich verließen den Berghof nun aus dem vorderen Eingang. Langsam folgte ich ihr eine große marmorne Freitreppe hinunter, zu deren Füßen Herr Reinke an den Mercedes gelehnt stand und mir dann beflissen die Tür öffnete.

Eva reicht mir zum Abschied die Hand. „Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Lena", sagte sie mit einem offenen Lächeln. „Lassen Sie uns etwas unternehmen, wenn Ihr Fuß wieder hergestellt ist. Ich zeige Ihnen gern die Bergwelt."

Ganz sicher nicht, dachte ich, ließ aber nur ein unverbindliches Das ist sehr freundlich von Ihnen hören.Denn ich war absolut entschlossen, zukünftig einen großen Bogen um Eva Braun und die hier versammelten Nationalsozialisten zu machen.

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Where stories live. Discover now