Kapitel 4

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Die Sonne strahlte von einem wolkenfreien, blauen Himmel und eröffnete eine überwältigende Sicht auf das Bergmassiv vor mir. Kleine Krüppelkiefern säumten den schmalen Pfad, der sich beständig nach oben wand. Zu meiner Rechten erstreckte sich eine Bergwiese, auf der unzählige Blumenarten in bunter Blüte standen. Das Gesumme eifriger Bienen war zu hören und ein Duft nach etwas Süßem und zugleich Würzigem lag in der Luft. Es war ein Bild vollkommener Idylle. Dennoch fiel es mir schwer, mich für längere Zeit darin zu verlieren. 

Stets glitten meine Gedanken immer wieder zurück zu meiner prekären Situation. Ich konnte nicht verhehlen, dass die Lage alles andere als berauschend war. Denn mittlerweile hatte ich zu ahnen begonnen, in welches Jahrzehnt es mich verschlagen haben konnte. Es war genau, wie ich im Gespräch mit Marc befürchtet hatte: ich war in einer Zeit gelandet, die man nicht erleben wollte. Ich wusste nicht genau, wann mein Opa geboren war und der Gesprächigste über seine Kindheit war er nie gewesen. Aber eine gewisse Vermutung wurde ich nicht los.

Sorgsam setzte ich einen Schritt vor den nächsten, darauf bedacht, nicht über den unebenen, mit Steinen durchsetzten Weg zu stolpern. Die Gegend hier war absolut herrlich, die Luft frisch und klar und die Temperatur in dieser Höhe erträglich. Es hätte eigentlich wunderschön sein können... Ich seufzte leise und blieb an einem kleinen Busch stehen, da der weitere Weg nun von Geröll übersät war. Ratlos sah ich den Hang, über den sich der Pfad wand, hoch und runter und entschied mich schließlich dafür, die Wiese nach oben zu klettern in der Hoffnung, oberhalb des Geröllfeldes zu landen. Mit den Händen suchte ich an einigen Felsen Halt. Gräser und irgendetwas Kratziges streifte meine bloße Haut an den Beinen, aber beharrlich kraxelte ich höher.

Dies war es schließlich, was ich mit meinem Urlaub geplant hatte - Wandern durch die Bergwelt wie früher mit meinen Eltern. Nils hatte es hingegen nie gemocht... Traurigkeit überfiel mich bei dem Gedanken, dass es zwischen uns nicht geklappt hatte. Letzten Endes waren unsere Gemeinsamkeiten einfach zu gering, die Ehe nur noch durch die gemeinsamen Kinder getragen gewesen. Dies war nun mehrere Jahre her. Vielleicht wurde es endlich Zeit für einen Neustart... Was mich unvermittelt wieder in mein Problem zurückkatapultierte. Dies hier war beileibe nicht das, was ich mir unter einem Neuanfang vorstellte. 

Nach Luft ringend hielt ich inne und drehte mich um. Der Anblick ließ mich schier den Atem stocken. Schneebedeckte Gipfel reckten sich majestätisch in der Ferne nach oben. Schroffe, felsige Hänge zeugten von der Urgewalt der Natur. In einiger Entfernung glitt ein Raubvogel lässig vorbei, sank kurz tiefer und ließ sich dann von den Aufwinden wieder nach oben tragen. Es war so unglaublich ruhig hier oben. Als stünde man über allen Dingen, als könne einen nichts belasten. 

Doch wenn Magdalena das auch ohne Einschränkungen hätte genießen können, Lena konnte es nicht. Ich wollte zurück, dahin, wo ich hingehörte, wollte zu meinen Kindern. Diese Zeit war nicht meine! Verbissen wandte ich den Blick ab und setzte meinen Weg schließlich quer über den Hang fort, wo die Gerölllawine mittlerweile den Blicken entschwunden war. Warum hatte Opa nie über seine Kindheit sprechen wollen? Dank meines mangelnden Geschichtsinteresses hatte ich sein Schweigen nie hinterfragt. Ich glaubte mal vernommen zu haben, dass seine Halbschwester deutlich älter als er gewesen war. Was mich also, wenn ich Glück hatte, vielleicht noch in die zwanziger Jahre versetzt hatte. Allerdings schien Magdalenas Tagebuch eine andere Sprache zu sprechen... 

Auf meinen Armen bildete sich trotz der Wärme eine leichte Gänsehaut. Ich musste zurück. Bevor noch etwas Schlimmes passierte. Nur wie? Ich konnte mir absolut keinen Reim darauf machen, was diese Reise in die Vergangenheit in Gang gesetzt hatte. Wieso hatte ich mich plötzlich in eine Verwandte verwandelt, nachdem ich doch zuvor noch ich selbst gewesen war? Ich hatte doch nichts weiter getan außer mich im Zimmer aufzuhalten. 

Geschockt blieb ich plötzlich stehen. Ich hatte Magdalenas Tagebuch gelesen! War es das, was die Veränderung meines Körpers bewirkt hatte? Ich spürte das Herz deutlich vernehmbarer als sonst in meiner Brust pochen, als ich mich fragte, ob sich das irgendwie rückgängig machen ließ. Vielleicht indem ich es rückwärts las? Es war jedenfalls einen Versuch wert. Und vielleicht ergab ein Schritt den nächsten... Hilflos ballte ich die Hände zu Fäusten. Es musste einfach funktionieren! Ich gehörte nicht in diese Zeit! 

Entschlossen drehte ich mich um. Und biss dann frustriert die Zähne aufeinander. Der ganze Berghang war so steil, dass an ein Abwärtssteigen nicht wirklich zu denken war. Wie war ich hier bloß hochgekommen? Ratlos starrte ich auf die abschüssige Alm unter meinen Füßen. Hatte mir nicht Frau Huber geraten, stets auf den Wegen zu bleiben? Jetzt war es zu spät. Und ich hatte weder ein Handy noch einen Kompass, um den Weg zurückzufinden. Na toll! Als hätte ich nicht schon genug Probleme. Fuck! Genervt wedelte ich eine Biene beiseite, die begonnen hatte, mich mit unermüdlicher Intensität zum umkreisen. 

Auf der Suche nach einem alternativen Plan glitt mein Blick hastig umher und kam schließlich auf einer Art Hochebene einige Meter über mir zu stehen. Es wirkte fast, als würde dort ein Weg verlaufen... Erschöpft stolperte ich wenige Minuten später von der Sommerwiese auf eine asphaltierte Straße, die als Schneise durch einen Nadelwald führte. Frau Huber hatte nichts davon gesagt, dass hier oben noch weitere Menschen wohnten. Tatsächlich hatte ich eher den Eindruck gehabt, dass der Hubertsche Hof schon jenseits von gut und böse lag, ohne die geringsten Nachbarn in der Nähe. Aber das war ja eigentlich auch egal, Hauptsache, ich fand jemanden, der mir den Weg zurück beschreiben konnte. 

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und war froh über die ein wenig Schatten spendenden Tannen, die ein grünes Baldachin über mir bildeten. Mit neu erwachter Hoffnung folgte ich der ziemlich eben verlaufenden Straße in die Richtung, die mir am Plausibelsten erschien. Leider hatte ich nicht darauf geachtet, wo die Sonne gestanden hatte, als ich losgewandert war. Nach etwa zwanzig Minuten, ohne dem geringsten Fahrzeug begegnet zu sein und ohne irgendwelche Spuren einer menschlichen Existenz wahrgenommen zu haben, schwand langsam meine Zuversicht. 

Doch mit einem Mal vernahm ich ein leises, fröhliches Summen in der Ferne, das der Schall durch die Ruhe des Gebirges zu mir hinübertrug. Mit der flachen Hand zum Abschirmen gegen die Sonne sah ich zu einer vielleicht hundert Meter entfernten, etwas tiefergelegenen Grotte hinüber, in die sich sprudelnd ein Bergbach ergoss. Und dort kletterte gewand jemand von Felsen zu Felsen. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir.

"Hallo! Ha-llo!" Ungestüm wedelte ich mit den Armen und drängte dabei die Angst, mit einem weiteren Menschen aus dieser Zeit in Kontakt treten zu müssen, in den Hintergrund.

Doch die Person war so vertieft in das, was sie tat, dass sie mich nicht bemerkte. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als mich auf den Weg zu den Felsen zu machen, auf denen sie herumturnte. Kurz darauf konnte ich erkennen, dass es eine junge Frau war, die da fast halsbrecherisch über moosüberwachsene Steine hüpfte und eine altmodische Kamera in den Händen zu halten schien, mit der sie die Umgebung aus verschiedenen Blickwinkeln aufnahm. 

"Ha-llo!"

Endlich hatte sie mich gehört und sah sich überrascht zu mir um. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht und anmutig sprang sie über die Steine im Wasser auf mich zu. Sie schien älter zu sein als ich anfangs gedacht hatte, vielleicht Ende Zwanzig. Kurz vor den Schultern endende blonde Locken umrahmten ein Gesicht mit vollen Wangen und ihre Augen blitzten mich fröhlich an, bevor sie ohne jede Zurückhaltung fragte:

"Könnten Sie vielleicht eine Fotografie von mir machen?"


Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt