Kapitel 15

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Etwa eine Viertelstunde später hielt das Cabrio auf einer Wiese, die sanft zum See hin abfiel. Die Temperatur war inzwischen so sehr gestiegen, dass die Abkühlung im Wasser etwas ungemein Verheißungsvolles an sich hatte. Eva ging es offenbar nicht anders, im Nu hatte sie sich ihres Kleides entledigt und stürzte sich in die Fluten des Bergsees.

Ich folgte etwas langsamer, spürte einen Moment lang das kalte Nass wie brennende Nadeln auf meinem Körper. Dann jedoch überwog der Genuss der erfrischenden Kühle auf der Haut und ich glitt mit genießerischen Zügen durch das Wasser. Drehte mich auf den Rücken und starrte in die gleißende Sonne über mir, dann auf den Watzmann, der sich an der Westflanke des Königsees erhob.

Ein blonder Haarschopf erschien in meinem Sichtfeld und Eva näherte sich mir so schnell, dass ich schon bald die Wassertropfen sehen konnte, die die feuchten Haarsträhnen auf ihren Wangen hinterließen. Mit dem umliegenden Bergpanorama vor Augen konnte ich nicht anders als impulsiv zuzugeben:

„Es ist wirklich herrlich hier."

„Nicht wahr?", gab mir Eva Recht, streckte einen Augenblick lang das lachende Gesicht der Sonne entgegen und tauchte anschließend mit einem gekonnten Schwung in den See hinein. 

Etwa fünfzehn Meter entfernt tauchte sie wieder auf. Sie schien eine echte Sportskanone zu sein, was nicht wirklich zu dem Bild passte, das ich mir mal von Eva Braun gemacht hatte. Für einen Moment vergaß ich, wer die Frau war, die mich fröhlich zu einem Wettschwimmen herausforderte, das sie dann deutlich gewann. Verdrängte, warum ich mich nicht mit einem Vorwand vor diesem Treffen gedrückt hatte. Und genoss die Süße eines Sommertages mit dem entfernten Plätschern eines Wasservogels und dem Duft nach einer Frische, die einem nur ein klarer Natursee vermitteln konnte.

„Wie kommt es, dass Sie über so viel freie Zeit verfügen?", wollte ich wenig später von Eva wissen, als wir längst auf einer Decke saßen und uns von der Sonne trocknen ließen. „Müssen Sie nicht als Privatsekretärin ständig verfügbar sein?"

„Das ist so, ja", lachte Eva. „Wenn der Führer auf dem Berghof weilt. Wenn nicht... dann bin ich frei in meiner Zeit. Und unternehme dann meist etwas mit meiner Schwester oder Freundinnen, die zu Besuch kommen. Oder mit Gerda und Magret, die in direkter Nachbarschaft wohnen. Sie haben die beiden ja bereits kennengelernt."

„Und wie oft ist das so?", fragte ich weiter und legte meine Arme auf den aufgestellten Knien ab.

Eva machte eine Handbewegung voller Vagheit. „Ganz unterschiedlich. So oft ihm seine Geschäfte in Berlin Zeit lassen."

Es klang, als wäre er ein Wirtschaftsmagnat und nicht der Machthaber eines wachsenden Großdeutschlands.

„Manchmal weiß ich vorher, wann er kommt, manchmal nicht." 

Evas Gesichtsausdruck nahm einen schwer in Worte zu fassenden Ausdruck an, etwas zwischen Sehnsucht und Hingabe. Ich fand es schwer zu begreifen, was jemanden wie Hitler so anziehend für eine viel jüngere Frau machte und ich fragte mich, wieviel Eva wohl von den Zukunftsplänen des Diktators wusste. War sie ihm einfach irgendwie verfallen oder ausgesprochen naiv? Oder teilte sie womöglich seine Ansichten, ohne sie jedoch stets im Munde zu führen?

„Ab Dienstag nächster Woche wird er jedenfalls wieder für ein paar Tage auf dem Berghof sein", rissen mich Evas nächste Worte aus meinen Gedanken. Das Licht der Vorfreude, dass sich auf ihren Zügen spiegelte, machte die Aussage, sie sei seine Privatsekretärin, zur Farce, aber sie schien es nicht zu merken.

Unvermittelt kramte sie in dem Picknickkorb herum und förderte eine Packung Kekse zutage, die sie mir anbot. Zu meiner Verwunderung zündete sie sich anschließend eine Zigarette an. Auf meinen Blick hin zuckte sie nur mit den Schultern und scherzte dann keck:

„Verraten Sie es bloß nicht! Möchten Sie auch?"

Ich schüttelte den Kopf und biss vorsichtig in den Mürbeteig.

„Er bleibt bis Freitag. Eventuell auch bis Samstag", erläuterte Eva dann, hob das Kinn und blies den Rauch in die Luft.

„Oh, da ist mein Geburtstag", entfuhr es mir. „Also am Freitag, meine ich." Längst hatte ich Magdalenas Geburtsdatum verinnerlicht sowie alle Informationen, die ich ihrem Tagebuch hatte entnehmen können.

Eva drehte sich zu mir hin und machte ein überraschtes Gesicht. „Und dann sind Sie alleine hier?"

„Mein Mann muss die ganze Woche arbeiten", schob ich rasch hinterher. „Aber vielleicht schafft er es am Wochenende..."

„Vielleicht sollten Sie auf den Berghof kommen...", gab Eva nachdenklich von sich und betrachtete die Zigarette in ihrer Hand. „Wir werden sehen..."

Obwohl Eva einen Mann liebte, der den Tod von Millionenen von Menschen zu verantworten hatte, und obwohl sie dem Schicksal von Juden zumindest gleichgültig gegenüber zu stehen schien, kam ich nicht umhin anzuerkennen, dass sie einen wirklich sympathischen Zug an sich hatte. Gleich danach machte sich ein widerstreitendes Gefühl von innerer Panik und hoffnungsvoller Anspannung in mir breit, als ich die Möglichkeit begriff, die sich mir womöglich auftat.

Die Worte formten sich wie von selbst in meinem Mund. „Warum machen Sie das eigentlich? Sie kennen mich doch kaum."

Eva lachte. „Ich mag Sie, Lena. Sie sind irgendwie anders, erfrischend unkonventionell. So einen Urlaub alleine... Und natürlich hat der Führer längst Erkundigungen über Sie einziehen lassen. Aber Sie haben ja eine einwandfreie Herkunft, warum sollte ich mir da Sorgen machen?"

Erleichterung überflutete mich. Zumindest in dieser Hinsicht brauchte ich dann bei einer Begegnung mit diesen furchtbaren Leuten keine Angst zu empfinden.

„Wie ist...", ich räusperte mich und spürte angesichts der nächsten Worte einen Knoten im Magen, „...der Führer... eigentlich so? Als Dienstherr, meine ich."

Mein Herz schien seine Geschwindigkeit verdoppelt zu haben, klopfte ungemein heftig in meiner Brust. Täuschte ich mich oder flog da ein fast verschmitztes Lächeln über Evas Gesicht? Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff und antwortete dann im Stile einer enthusiastischen Sekretärin:

„Großartig! Natürlich ist er streng und fordernd. Er duldet absolut keinen Fehler. Aber es ist ein ausgesprochen erhabenes Gefühl, an der Seite des Mannes zu sein, der Tag und Nacht seine Energie in das Ziel steckt, Deutschland wieder zu seiner wahren Größe auferstehen zu lassen. Nehmen Sie die Rückkehr der Ostmark ins Reich, Lena!" 

Evas Augen hatten zu strahlen begonnen und ihre Begeisterung war unübersehbar. Mit weitausholender Gebärde wies sie mit der Hand in Richtung Österreich.

„Ist es nicht einfach wunderbar, dass wir alle wieder in einem Reich vereint sind? Ich sage Ihnen, der Führer hatte Tränen in den Augen, als die Verträge unterzeichnet wurden. Nun ist auch seine alte Heimat endlich wieder ein Teil von Deutschland."

Auch Evas Augen schimmerten bei diesen Worten verdächtig. Während sich mir der Magen zusammenzog. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass zwischen ihren Ansichten und denen Hitlers kein Blatt passte – hier hatte ich ihn. Und ihre nächsten Worte, fast prophetisch gesprochen, verursachten mir trotz der Wärme eine Gänsehaut:

„Ich sag Ihnen etwas, Lena. Falls diesem großartigen Land, in dem wir leben, einmal etwas passieren sollte – möge es der Führer verhüten – dann gäbe es nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnen würde. Dann bliebe nur noch, gemeinsam mit Deutschland unterzugehen. Ich weiß, dass der der Führer es so sieht. Und glauben Sie es mir - ohne mit der Wimper zu zucken würde ich dabei an seiner Seite stehen."

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Where stories live. Discover now