Kapitel 11

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In der Nähe heulte ein Motor laut auf und erstarb dann kurz darauf, während wir dem Trampelpfad folgten, der uns direkt zu den rückwärtigen Gebäuden des Hofes führte. Eine merkwürdige Unruhe erfasste mich und ließ mich stehenbleiben, direkt vor einer hübsch anzusehenden Pflanze voller lilafarbiger, helmförmiger Blüten die ich zu betrachten vorgab.

Ludwigs Augen wanderten über die hochgewachsene Blume.

„Eisenhut", kommentierte er kundig. Dann glitt sein Blick in Richtung Himmel, der inzwischen von dicken, grauen Wolken bezogen war.

„Da kündigt sich wohl der prophezeite Regen an", bemerkte ich.

„Gut, dass wir gleich zurück sind", stellte Ludwig zufrieden fest. Und mit noch immer ineinander verschlungenen Händen betraten wir kurz darauf den Hubertschen Hof. Doch noch bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, ob es nicht vernünftiger wäre, Ludwig meine Hand zu entziehen – Frau Hubert würde es gewiss missbilligen – lenkte mich der im Hof stehende schwarze Mercedes ab. Erneut blieb ich stehen und ein Schauer rann mir über den Rücken.

Hatten Hitler oder seine Helfershelfer womöglich etwas über meine Familie herausgefunden? Leider hatte ich absolut keine Ahnung, ob unser Stammbaum als arisch bezeichnet werden konnte. Mensch, Opa, warum hast du auch nie etwas erzählt?, dachte ich mit leichter Verzweiflung. Und dann, reumütig: warum hatte ich bloß nie etwas gefragt?

Ludwigs Blick lag so sehnsuchtsvoll auf dem schmucken, offenen Fahrzeug, dessen helle Ledersitze aus dem Schwarz der Karosserie herausstachen, dass er meine Verfassung überhaupt nicht bemerkte. Nervös beobachtete ich den Chauffeur hinter dem Steuer, der der gleiche Mann wie gestern zu sein schien. Ein kühler Wind war aufgekommen, als hätte das Erscheinen dieses Autos, das zu Hitlers Fuhrpark gehörte, unweigerliche jegliche Wärme dieses Sommertages vertrieben.

Ein bekanntes Lachen drang an mein Ohr und mit einem lauten Geräusch fiel die Eingangstür ins Schloss. Ich vernahm den überraschend reservierten Tonfall von Frau Huber und dann den erfreuten Ausruf von Eva.

„Da ist sie ja!"

Hastig ließ ich Ludwigs Hand fallen, was ihn sich irritiert zu mir umdrehen ließ. Doch meine Aufmerksamkeit war längst auf die schlanke, blonde Frau gerichtet, die in unbeschwerten Schritten und mit einem fröhlichen Gesicht auf mich zuschritt.

„Servus, Lena!", rief sie und stand sogleich direkt vor uns und reichte mir die Hand. „Wie geht es Ihrem Fuß?"

„Ganz gut, danke", murmelte ich verhalten. So nett ihre Nachfrage auch war, so hätte ich mir dennoch gewünscht, Fräulein Braun kein weiteres Mal zu begegnen.

„Das freut mich zu hören", strahlte sie. Und dann flog ihr Blick zu Ludwig hinüber. Hatte man damals nicht Wert auf eine gewisse Etikette beim Vorstellen gelegt? War das jetzt meine Aufgabe?

Zum Glück brachten beide dies auch ohne mich zustande.

„Sie sind...?" fragte Eva mit einem offenen Lächeln und offenbar in Erinnerung daran, dass ich ihr erzählt hatte, dass ich ohne meinen Mann im Urlaub weilte. Höflich streckte sie Ludwig ihre Hand entgegen.

„Ludwig Manshagen", erwiderte er, ergriff ihre Hand und betrachtete Eva mit dezenter Neugier. Vermutlich ahnte er nach meiner Erzählung, um wen es sich hier handelte.

Evas Augen wurden unvermittelt ein wenig größer und es sah kurz so aus, als würde sie ein minimales Stück in die Knie gehen.

„Eva Braun. Ich fühle mich geehrt, Herr Manshagen", brachte sie mit einem leichten Kieksen in der Stimme hervor, bevor sie atemlos ergänzte:

„Ich habe all ihre Bücher gelesen. So spannend."

Ihre Wangen wurden unversehens eine Schattierung dunkler. Anscheinend hatte Ludwig gestern nicht übertrieben damit, dass die Frauenwelt seine Romane kannte. Er hatte mir auf unserem Spaziergang einiges über deren Inhalte erzählt und ich hatte längst beschlossen, mir sein letztes Werk einmal vorzunehmen, während ich mich hier in den Bergen befand.

„Vielen Dank", gab Ludwig bescheiden zurück, während Eva sofort wissen wollte:

„Sind Sie nicht nächste Woche auf einer Lesung in Salzburg?"

„Am Montag", bestätigte er und fügte galant hinzu: „Ich würde mich freuen, Sie dort begrüßen zu dürfen."

„Wenn ich es einrichten kann", seufzte Eva und wollte dann hoffnungsvoll wissen: „Signieren Sie auch?"

„So lange es meine Hand mitmacht", scherzte Ludwig und ich senkte den Kopf, um mein Lächeln zu verbergen.

Computer erleichterten ja vieles, aber eine echt handschriftliche Unterschrift ließ sich eben doch nicht ersetzen. Ludwig warf mir einen raschen Blick zu, als ahne er, was mir durch den Kopf ging. Immerhin hatten wir uns vorhin zu meinem stillen Amüsement über die futuristischen Möglichkeiten des Schreibens ausgetauscht. Denn er hatte mir verraten, dass er gern einmal etwas schreiben wollte, was in der Zukunft spielte.

„Dann bringe ich wohl lieber nur ein Buch mit", scherzte Eva und wandte sich dann wieder an mich.

„Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, morgen mit mir zum Königssee zu fahren. Anders als heute...", sie warf einen bezeichnenden Blick auf die sich über uns zusammenballenden Wolken, „...soll das Wetter morgen herrlich werden." Dann lächelte sie vielversprechend. „Dort gibt es eine wunderbare Badestelle. Können Sie schwimmen?"

„Schon..." begann ich vage und überlegte, wie ich höflich ablehnen könnte.

„Sagen Sie nicht Nein, Lena! Sie wissen nicht, was Sie verpassen!" Die blauen Augen unter den schmalen, akkurat gezupften Augenbrauen strahlten mich auffordernd an, doch ich konnte Eva nur wortlos anstarren.

Sie wirkte so ungemein lebensfroh und hatte tatsächlich weiterhin etwas Sympathisches an sich, dessen ich mich nicht so ganz entziehen konnte, so sehr ich es auch wollte. Zum Glück hatte Hitler in mir gestern zumindest keine positiven Gefühle geweckt. Das hätte noch gefehlt! Unabhängig von den ganzen Gräueltaten, für die er verantwortlich war, blieb es für mich unverständlich, wie er so viele Frauen seiner Zeit für sich hatte einnehmen können.

„Der See ist wirklich wunderschön", empfahl auch Ludwig. „Es ist eine schöne Möglichkeit, einen Sommertag zu genießen und dabei etwas von der Umgebung zu sehen. Auf jeden Fall viel angenehmer, als morgen im Zug nach München zu sitzen."

„Was?" Ich konnte meine Überraschung nicht ganz verbergen.

Ludwigs Mundwinkel wanderten nach unten, während er mich mit diesem direkten Blick ansah, der so typisch für ihn war. Obwohl er einen Moment lang schwieg, sprachen seine Augen dennoch Bände und vermittelten alles, was ich wissen musste. Es lag das gleiche Bedauern in ihnen, das auch ich darüber empfand, die nächsten Tage ohne ihn verbringen zu müssen.

Nach außen hin jedoch gelassen erläuterte Ludwig:

„München und dann Rosenheim. Am Wochenende bin ich kurz hier und dann geht es anschließend von Salzburg über Passau und Linz nach Wien."

Ich war froh darüber, dass sein neutrales Verhalten nicht die zwischen uns enger gewordene Beziehung verriet. Eva und Frau Huber würden dieses Verhalten einer allem Anschein nach verheirateten Frau wohl kaum gutheißen. Gleichzeitig wuchs meine Ratlosigkeit. Ich konnte Ludwig gegenüber nicht viel länger meine angeblich unglückliche Ehe verschweigen... Er selbst hatte mir vorhin durchaus eine Menge über sich erzählt.

„Da hören Sie es, Lena!", stellte Eva befriedigt fest. Als hätte ich bereits zugesagt, fasste sie entschlossen zusammen:

„Ich hole Sie dann morgen um neun Uhr hier ab."

„Ich glaube nicht, dass..."

Doch ohne mir Gelegenheit zu einem Einwand zu geben, verabschiedete sich Eva nun eilig. „Ich sollte mich auf dem Weg machen. Sonst komme ich nicht mehr trocken zurück." Mit einer raschen Drehung wandte sie sich um und schritt zum Wagen hinüber.

Tatsächlich hatte sich der Himmel merklich verdüstert. Und entsprach damit genau meiner Stimmung. Unzufrieden zog ich meine Augenbrauen zusammen und verfluchte das Schicksal, das mich erneut in Evas Nähe schob. Welchem Gott war ich in meinem Leben bloß auf die Füße getreten?

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt