19 - Es geht um Manchester

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Die nächsten zwei Tage zogen sich dahin wie zähes Kaugummi. Den Sonntag verbrachte ich in meinem Zimmer, mit der Decke über meinem Kopf. Ich ignorierte Niall's Anrufe und die Nachrichten meiner Schwester, suhlte mich stattdessen in meiner schlechten Laune und fand den Weg aus meiner Angst nicht heraus. 
Den Montag verbrachte ich in den Vorlesungen, während ich in den Pausen die Räume und Flure nach Harry absuchte. Ohne Erfolg. 

"Wo ist er nur?" fragte ich Niall, als wir abends auf den Fußballplatz traten und uns für das Training warm machten. Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht versteckt er sich vor dir, damit du ihn vermisst." 
Ich sah Niall einen Moment überrascht an, ehe ich in mich hineinhörte.
"Falls es so ist, funktioniert es", murmelte ich frustriert. Niall sah zu mir.
"Was?" 
"Ich vermisse ihn", antwortete ich und sah meinen besten Freund an. "Tu ich wirklich. Es ist komisch", fügte ich hinzu. 
"Dann ruf ihn an!" forderte er mich auf, doch ich schüttelte den Kopf. Stattdessen nahm ich mein Handy und öffnete unseren Nachrichtenchat, begann nach kurzem Zögern zu tippen.

L: Hey! Ist alles okay bei dir? Du warst heute nicht in den Vorlesungen... 

Er las die Nachricht beinahe sofort. Abwartend und nervös biss ich mir auf die Lippe, starrte auf den Status, der "Schreibt..." anzeigte und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. 

H: Alles gut. Ich war bei meiner Mutter. 

Sieben Wörter. Mehr schickte er nicht, kurz darauf war er wieder offline. Ich steckte das Handy weg und fuhr mir durch die Haare, atmete tief durch. 
"Und?" fragte Niall mich. 
"Ist bei seiner Mom..." murmelte ich leise und er nickte leicht, während wir uns weiter warm machten und schlussendlich mit dem Training begannen, als Jack zu uns stieß. 
Er nahm mich zur Seite und sah mich ernst an.
"Bist du bereit für Samstag? Es sind nur noch fünf Tage...Nur zwei Trainingseinheiten", sprach er und ich nickte sofort. "Ich bin bereit. Die Woche ist zusätzlich jeden Tag Fitnessstudio und Joggen angesagt", antwortete ich.
Auf Jack's Gesicht bildete sich ein stolzer Ausdruck und ein Hauch eines Lächelns.
"Ich bin stolz auf dich, Louis. Du hast dich gut gemacht. Wenn sie dich nehmen, bist du der Erste von diesem College, der in die Profiliga eintritt!" sagte er und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. 
"Versau's nicht, okay?" 
Ich lächelte ihn sofort an und nickte. "Das mach ich nicht, Coach! Versprochen!" antwortete ich ihm, ehe er mich mit einer Handbewegung wegschickte und ich zurück zu den anderen joggte. 

Als wir irgendwann im Training zum Zweikampftraining übergingen, spürte ich die Anspannung in meinen Muskeln. Mein Gegenspieler Lucas, ein zäher Verteidiger, stand mir gegenüber, seine Augen fest auf den Ball gerichtet. Jack pfiff, und wir stürmten los. Ich täuschte links an, zog dann nach rechts, aber Lucas folgte mir wie mein Schatten. Es war ein anderes Spiel als mit Harry und ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken vom Ball weg hin zu ihm glitten. Nur für eine Sekunde. Doch im nächsten Augenblick verfingen sich unsere Füße, ein Missgeschick, ein Stolpern – und ich fiel. Als ich auf dem Boden aufkam und abrutschte, zischte ich auf und blieb einfach liegen. Meine Handflächen brannten und die ohnehin vom letzten Mal aufgescheuerten Knie taten weh, sodass ich die Augen zusammenkniff und tief ein und aus atmete.

Meine Mitspieler eilten herbei, ich sah Niall, der sich vor mich auf die Knie warf und mich besorgt ansah. "Lou, wo tut es weh?" fragte er eilig und ich zischte auf. 
"Alles gut..." sagte ich leise und sah mir meine Handflächen an. Der Kunstrasen hatte aufgeschürfte Stellen hinterlassen und sie bluteten ein wenig. An den Knien sah es ähnlich aus. Typische Fußballverletzungen, die nicht schlimm waren, doch ich hatte keine Kraft heute. Ich sah zu Niall und schüttelte den Kopf. "Ich kriege heute nichts mehr hin", sagte ich leise. 
Er nickte, half mir wieder aufzustehen und klopfte mir leicht auf den Rücken. 
"Jack hat sicher kein Problem damit, wenn du heute aussetzt", sagte er mit besorgtem Blick und ich schüttelte den Kopf. 
"Es geht mittlerweile um mehr als den Abschluss, Niall. Es geht um Manchester." 

Er wollte etwas sagen, doch ich joggte von ihm weg und gab Jack ein Zeichen, dass ich weitermachen konnte. Wir setzten das Training fort und ich versuchte, mich so gut es ging zu konzentrieren. Meine Leistung war nicht so gut wie sonst, das wusste ich, doch ich konnte nicht mehr abliefern. Am Ende des Trainings ließ ich mich auf den Rasen fallen und blieb einfach liegen, während Niall die Bälle einsammelte. 
Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf meine Atmung und versuchte mir selbst einzureden, dass all das nichts zu bedeuten hatte. 
Doch das hatte es und das wusste ich. Ich performte schlecht, weil ich an Harry dachte und weil es mir mit der jetzigen Situation nicht gut ging. Ich musste ganz dringend mit ihm reden. 

"Bist du fertig mit Trübsal blasen, oder soll ich die Flutlichtanlage einfach ausmachen schonmal?" 
Ich öffnete die Augen und sah Niall an, der über mir stand und mich ansah. Er hatte die Arme verschränkt und sein Blick war ernst. 
"Mach sie aus. Ich bleib hier liegen", antwortete ich resigniert. 
"Komm schon, Lou! Geh doch einfach zu ihm!" sagte er, ich schüttelte den Kopf. 
"Er wird mich abweisen!" 

Niall lachte auf. "Es ist Harry! Er wird dich nicht abweisen!" 
Ich seufzte und setzte mich auf, sah zu dem Iren nach oben. "Du kennst ihn doch gar nicht!" sagte ich trotzig. 
Er schenkte mir einen aufgebrachten Blick, ehe er mich packte und mich einfach hochzog. "Zur Not bringe ich dich zu ihm!" 
Mit diesen Worten zog er mich mit sich, drückte mir die Sporttasche in die Hand und stiefelte über den Platz los. Ich blieb zunächst stehen, bis er mir einen bösen Blick zuwarf. Automatisch setzte ich mich in Bewegung und folgte ihm. 
Wir liefen bis zum Wohnheim und schließlich fanden wir uns vor Harry's Tür wieder. 
"Niall..." sagte ich warnend, doch anstatt auf mich zu hören, klopfte er einfach. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich hielt die Luft an. 
Doch auf der anderen Seite der Tür blieb es ruhig. 

"Er ist nicht da, Niall. Lass uns gehen", sagte ich leise und Niall seufzte nur, nickte jedoch. 
"Alles klar." 
Wir liefen schweigend zu meinem Zimmer, einen winzigen Moment hatte ich die Hoffnung, Harry vor der Tür zu sehen, doch dem war nicht so. 
"Hast du noch diese Salbe?" fragte ich Niall.
Er nickte sofort. Dankbar lächelte ich ihn an und hielt ihm die Tür auf, er ging in mein Zimmer und ich folgte ihm.

Ich betrat das kleine Bad und reinigte zunächst die Schürfwunden an meinen Händen, dann die Wunden an den Knien. 
Als ich damit fertig war, überreichte mir Niall die Wundsalbe und ich cremte die geschundenen Stellen damit ein, zischte leise auf, denn es brannte leicht. 
"Gehst du morgen früh mit mir ins Fitnessstudio?" fragte er mich, während wir uns auf meinem Bett niederließen und ich ihm ein Bier reichte, bevor ich meines öffnete und ihm den Flaschenöffner übergab. 
"Ja. Ich hab's dem Coach versprochen. Er zählt auf mich", antwortete ich schlicht. 
Niall musterte mich, nickte leicht. "Du weißt, dass du nicht einhundert Prozent gibst, solange du nicht mit Harry geredet hast, oder?" 

Seufzend nickte ich leicht. "Ich weiß. Das habe ich gemerkt heute", gab ich zu. Ich musste es mir eingestehen, ich brauchte einen freien Kopf. Ich spielte mit meinem Handy in der Hand und rang mit mir selbst, was ich jetzt tun sollte. 
"Schreib ihm wenigstens, wenn du Angst hast, ihm die Dinge ins Gesicht zu sagen." 
Beinahe hätte ich aufgelacht. Niall wusste aus irgendeinem Grund einfach immer, was er sagen musste und es machte mir fast schon Angst hin und wieder. Doch er hatte Recht. Ich hatte Schiss, Harry ins Gesicht zu sehen und ihm zu sagen, was mich quälte. 
Kurzerhand öffnete ich wieder unseren Chat und trank einen großen Schluck Bier, ehe ich anfing zu tippen, es aber gleich darauf wieder direkt löschte. 

"Was tust du?" fragte Niall. "Schreib weiter!" 
Ich schüttelte den Kopf. "Das ist nicht so einfach, Niall..." murmelte ich. 
"Doch, ist es! Sei einfach ehrlich zu ihm! Sag ihm, was du fühlst!" forderte er erneut. Humorlos lachte ich auf und schüttelte den Kopf, starrte die Bierflasche in meiner Hand an und kaute auf meiner Lippe herum. 
"Lou, wenn du nicht ins kalte Wasser springst, wirst du nie schwimmen lernen." 

Ich hob eine Augenbraue und sah ihn irritiert an. "Hast du dir das gerade ausgedacht?" 
Niall lachte. "Keine Ahnung, aber ich habe recht! Ich denke, dass Harry das Risiko wert ist", antwortete er.
Das ließ mich automatisch an Harry's Worte denken. "Er hat gesagt, ich wäre das Warten wert. Aber das bin ich wohl doch nicht", sprach ich leise und seufzte leicht. "Ich will einfach nur zu ihm."
Ein Klopfen unterbrach unsere Unterhaltung, was ich mit einem Augenverdrehen quittierte, ehe ich aufstand.
"Ist bestimmt Lottie, sie wollte nochmal nach dir sehen", bemerkte Niall.
"Okay", antwortete ich und öffnete die Tür. 
Doch es war nicht Lottie, nein, niemand Geringeres als Harry stand vor meiner Tür und musterte mich mit besorgtem Gesichtsausdruck.
"Im Teamchat reden sie darüber, dass du dich beim Training wohl verletzt hast. Ist alles okay?"  

Tangled Hearts | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt