Kapitel 62 - Meine Metapher

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Wie ich Harry so ansehe und er seinen Blick von mir abwendet, stumm nach draußen zum See blickt, denke ich, dass er selbst keine Antwort hat. Vielleicht weiß er selbst nicht, wie so was passieren konnte und vielleicht lag es tatsächlich nur daran, dass er sich verändert hat.

„Wie konntest du mich damals einfach verlassen?", frage ich ihn, weil er immer noch schweigt. „Was ist nur mit uns passiert?"

„Die Dinge haben sich nun mal geändert", ist das Einzige, das Harry dazu zu sagen hat. „Und damals ... hat sich zu viel geändert."

Verzweifelt versuche ich seinen Blick aufzufangen, doch er sieht weiterhin weg. „Aber was? Ich weiß bis heute nicht, wieso du einfach ... gegangen bist." Weil Harry erneut nichts sagt, meine ich noch: „Lag es an dir oder an mir? Ich habe es nie verstanden, nie."

Sekunden vergehen, in denen ich mir schon sicher bin, dass er nicht darüber sprechen wird, genauso wie er mir bei sich in der Küche nicht sagen wollte, wieso er mir damals nie erzählt hat, dass sein Vater Krebs hat. Aber Harry überrascht mich. Mal wieder.

„Es lag an dir", sagt er, sieht mich immer noch nicht an.

„Was?", hauche ich leise.

„Du hast damals eine Menge Scheiße zur falschen Zeit gebaut." Harry lehnt sich zurück, atmet tiefer durch. „Ich bin nicht ohne Grund gegangen."

„Was habe ich getan?" In meinem Kopf suche ich nach Dingen, die ich damals falsch gemacht haben könnte, aber mehr Taten wie diese, in denen ich Harrys Fußball kaputt gemacht habe, fallen mir nicht ein.

Kurz herrscht Gesprächspause und dann sagt Harry: „Kurz vor deinem dreizehnten Geburtstag habe ich dir meinen Cousin Berry vorgestellt, erinnerst du dich noch daran?"

Ich nicke.

„Ich baue das alles jetzt nicht aus, aber es hat mich so was von scheiße abgefuckt, wie sehr du auf ihn abgefahren bist. Er ist nach Belfast gezogen und es war so verdammt nervig, wie oft du über ihn gesprochen hast. Ich hab's dir nie gesagt, aber ich konnte ihn absolut nicht ausstehen, nicht mal ansatzweise. Aber mir blieb natürlich nichts anderes übrig, außer zu akzeptieren, dass ihr euch so gut versteht. Ich meine, im Endeffekt sollte es mir doch sowieso egal sein oder? Aber – das klingt so kindisch, aber damals waren wir eben noch Kinder – du hast mich irgendwann angelogen und mich versetzt, um mit Berry abzuhängen. Ich wusste es, aber habe es akzeptiert."

„Deswegen hast du mich verlassen?", frage ich Harry, beinahe vorwurfsvoll.

Er lacht leicht auf, es klingt bitter. „Nein, ich bin noch nicht fertig. Die Situation war ziemlich angespannt und dann, an deinem dreizehnten Geburtstag, wurde bei meinem Vater Krebs diagnostiziert. Und du hast dich doch gefragt, wieso ich es dir damals nicht erzählt habe. Die Wahrheit ist, ich wollte es dir erzählen."

Ich höre weiter gespannt zu.

„Ich kann mich noch genau daran erinnern", sagt Harry, versunken in Gedanken. „Wir waren in der Schule, du standest im Flur und ich hatte die Nacht davor nicht geschlafen, weil meine Mutter mich genervt hat und die Sache mit meinem Vater natürlich ziemlich kacke war. Du hast dich mit Berry unterhalten und ich stand hinter dir, war das absolute Wrack, aber als hätte meine Gesamtsituation nicht schon gereicht, habe ich zugehört, wie du zu Berry gesagt hast, dass ... Harry wäre nie meine erste Wahl ... Er ist nur irgendein Idiot, den ich schon zu lange kenne. Meine Eltern zwingen mich dazu, mit ihm befreundet zu sein." Harry verzieht das Gesicht, als würden ihm diese Worte wieder wehtun. „Scheiße, Violet, ich glaube, du kannst dir nicht vorstellen, was du damit in mir angerichtet hast."

Violet Socks I HSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt