Kapitel 2 Hannahs Sicht (Mutter)

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Kapitel 2 Sicht der Mutter

Mein kleines Mädchen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Leukämie? Wir werden sie verlieren, oh Gott, wir werden sie verlieren. Gerade sitze ich mit Markus im Wartesaal im Krankenhaus, denn unsere Tochter bekommt jetzt die erste Chemo. Dafür muss sie eine Woche hierbleiben. "Markus, meinst du nicht, wir sollten es ihr sagen?", frage ich unbehaglich. "Was sagen?", erwidert Markus. "Na, du weißt schon. Das, was der Doktor uns erzählt hat, als wir allein mit ihm geredet haben." "Nein, auf keinen Fall! Man kann dem Kind nicht zumuten, mit dieser Last zu leben." "Aber vielleicht sollte sie wissen, dass ihr noch 3 Monate bleiben..." ich stocke. Wie immer, wenn die Worte des Arztes in meinem Kopf wiederhallen, bleibt mir die Luft weg. 'Wir geben ihrer Tochter noch 3 Monate.' ich schließe die Augen. 'Wir geben ihrer Tochter noch 3 Monate.' Nein, Nein, NEIN! Als ich die Augen wieder öffne, werde ich von allen Seiten doof angeguckt und erst jetzt fällt mir auf, dass ich aufgestanden bin und meine Gedanken laut rausgebrüllt habe. Markus zieht mich in seinen Arm und ich beginne laut zu weinen. "Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll!", schluchze ich. Markus streicht mir beruhigend über den Rücken. "Zeig es ihr nicht. Gib ihr immer das Gefühl, die Lage sei nicht so ernst, wie sie ist. Diese 3 Monate sollen die schönsten Monate ihres Lebens sein. Wir nehmen sie von der Schule und machen nur schöne Dinge mit ihr. Sie wird selbst spüren, dass sie bald stirbt." Ich frage mich, wo Markus dieses Wissen und diese Kraft jetzt hernimmt, aber es baut mich auf. "3 Monate vergehen so schnell...", wimmer ich. " Schatz, es ist jetzt so. Versprich mir, dass das schönsten Monate ihres Lebens werden, ja?" "Ja", hauche ich und kuschel mich tiefer in seinen Arm. In dem Moment kommt eine Krankenschwester in den Raum. "Sie können Mila jetzt besuchen. Nicht erschrecken, sie ist noch ein wenig benommen.", erläutert sie mit gedämpfter Stimme und sofort bin ich auf den Beinen. "Hat sie schon ihrer Haare verloren?", zische ich. "Nein, das passiert erst im Laufe der Woche, so bei der 2. und 3. Behandlung fängt das an." Na toll! Dann wird meine Tochter schon in 7 Tagen keine Haare mehr haben! Markus schiebt mich sanft in Richtung Tür und wir gehen über einen Flur. Alles ist still. "Hier Markus! Zimmer Nummer 236, das ist sie!", rufe ich ganz aufgeregt. "Pscht!", macht Markus und nickt. Langsam drücke ich die Klinke runter und halte den Atem an. Was wird mich erwarten? Ängstlich kneife ich die Augen zusammen, als ich die Türe öffne und eintrete. Dann, ganz zaghaft, öffne ich meine Augen. Da liegt sie. Auf ihrem weißen Gesicht liegt ein leichtes Lächeln. Ihre dunkelroten, schmalen Lippen zucken ab und an. Ihre langen, dunklen Wimpern und ihr schönes Lid verdecken ihre Augen und ihre dunklen Haare wellen sich über die Decke bis zu ihrem Bauchnabel. Markus legt mir seinen Arm um die Schultern. "Sie ist wunderschön, nicht?", flüstert er in mein Ohr. "Wie Schneewittchen.", gebe ich zurück und bewege mich langsam auf Mila zu. Neben ihrem Bett steht ein Stuhl, auf den ich mich jetzt setzte. Ich nehme ihre Hand und halte sie fest. Wird es so auch sein, wenn sie stirbt? In dem Moment öffnet sie ihre hellblauen Augen und sieht mich an. Kurz hebt sie den Kopf, um sich zu versichern, dass Markus auch da ist, dann fällt sie auf ihr Kissen zurück. "Hallo. Schön, dass ihr hier seid.", sagt sie leise. "Aber natürlich, mein Schatz.", erwider ich und streiche über ihr weiches Gesicht. Sie sieht mich lächelnd an und mein Herz öffnet sich, um Blut zu weinen. Dieses Lächeln bleibt mir nur noch 3 Monate. Markus merkt, dass es mir schwer fällt, nicht loszuweinen und wechselt das Thema. "Wie war die Chemo?" Mila schüttelt den Kopf. "Ich weiß es nicht mehr. Ich glaub, ich hab ein paar Spritzen bekommen." Von ihrem Bett fällt eines ihrer langen Haare und schwebt durch die Luft. Als es auf dem Boden liegt, starre ich es an. Nein, es darf noch nicht anfangen! "Du Mila, ruh dich noch ein bisschen aus, wir kommen heut Abend noch mal wieder.", presse ich hervor und zwinge mir ein Lächeln ab. "Mit Magda?", fragt Mila. Ich nicke. "Mit Magda." Sie beginnt zu strahlen, ihre Augen leuchten. Ich muss hier raus.

"Warum hattest du es auf einmal so eilig?", fragt Markus mich außer Atem, als er mich auf dem Parkplatz schließlich eingeholt hat. Als er jedoch bemerkt, dass ich laut weine, nimmt er mich in den Arm. "Komm, wir fahren heim.", sagt er und ich steige immer noch schluchzend auf den Beifahrersitz. " Ihr ist ein Haar runtergefallen!", bringe ich hervor, während er den Motor starter. "Und ich kann nichts dagegen tun, verstehst du? Sie wird all ihre Haare so verlieren, ihre ganze Pracht! Und wenn erst mal alle Haare weg sind, dann kann man ja schon fast die Tage zählen!", füge ich leise hinzu. Markus nimmt den Blick nicht von der Straße. "Wovor hast du Angst?", fragt er plötzlich und direkt. "Wie meinst-" "Hast du Angst vor ihrem Tod?", unterbricht er mich. Ich werde nachdenklich. "Ich glaube, ich habe Angst vor der Zeit.", gebe ich kleinlaut zu. "Hast du Angst, nicht genug Zeit zu haben?" "Ich habe Angst, die wunderbaren Dinge mit ihr nicht mehr oft genug zu erleben, um zu verkraften, dass sie stirbt."

Hallo, ich bin's, alitschi!

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