Kapitel 33

5.2K 246 9
                                    

Josephine's Sicht

Die Stadt ist voller Menschen, der Schneeregen pfeift um die eng stehenden Häuser. Zwischen geschäftigen Menschen in bunten Jacken und Schirmen stehe ich, die ich der Kälte in meiner rosa Bluse vollkommen schutzlos ausgesetzt bin. Meine Haare werden vom Wind zur Seite gezerrt, während ich mich langsam um meine eigene Achse drehe. Alles um mich herum ist laut, Autos hupen, Scheibenwischer kratzen über die Scheiben. Die Hektik ist typisch für den Menschen. Niemand bemerkt mich, die junge Frau, die sich ohne Jacke im Kreis dreht und darauf wartet, das erste, glitzernde Lichtstrahlen durch die graue Wolkendecke tanzen. Wo bleibt der Frühling?   Es ist kurz nach Weihnachten, der 27. Dezember und die Leute fahren wohl in den Skiurlaub. Doch der Ort, nach dem ich mich sehne, ist trocken und heiß. Wüste, Afrika, bloß kein Niederschlag, kein Frösteln. Und da ziehe ich einen Entschluss.

Lea's Sicht

Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es Abend. Das fahle Licht einer Laterne brennt vor meinem Fenster und erfüllt den winzigen Raum mit schwacher, flackernder Helligkeit. Ich muss feststellen, jetzt fühle ich mich um einiges lebendiger als heute Mittag. Ich schaffe es sogar problemlos, nach dem Glas Wasser zu greifen und zu trinken. Auch die Beine kann ich bewegen. Aber mein Magen ist ein großes Loch; er knurrt ununterbrochen. Meine Hüft- und Wangenknochen stechen hervor und ich fühle mich schrecklich. Schreckloch ausgelaugt und depositioniert in diesen riesigen weißen Decken und Laken, die mich zu verschlucken drohen. Als ich neben mir ein Röcheln vernehme, schreie ich leise auf und fahre umher. Ich muss die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, dass ich nicht alleine im Raum bin. Auch mein Zimmernachbar sitzt senkrecht im Bett. "Alles klar? Soll ich die Schwester rufen?" Es liegt Besorgnis in der alten, kratzigen Stimme. " 'Tschuldigung", fiepe ich und lasse ein Bein aus dem Bett hängen. Auf einmal ist mir schrecklich heiß. "Ich hatte mich nur erschrocken. Keine Schwester." Eine Weile mustern wir uns, soweit die Dunkelheit es zulässt. Es muss sich um einen Mann handeln, sehr alt auf jeden Fall. Seine Haut scheint so dünn wie Pergamentpapier und seine krumme, dürre Gestalt scheint beinahe unscheinbar. "Ich bin Karl-Heinz Heuser", stellt er sich schließlich röchelnd vor. Scheint was mit der Lunge falsch zu sein. "Ähm, Lea Bauer", murmele ich meinerseits. "Auch Lungenentzündung?", fragt Karl-Heinz und von hier sieht es so aus, als zwinkere er mir zu. Ich schüttele den Kopf. "Nein, es ist... kompliziert." Ich bin nicht bereit, darüber zu reden, noch nicht. Wegen des Valiums befinde ich mich in einer Art Ausnahmezustand und ich will nicht vor diesem Herrn in Tränen ausbrechen müssen. "Und Sie?", lenke ich daher von mir ab. "Lungenentzündung?" Karl-Heinz winkt ab. "Nein", röchelt er. "Die Lungenentzündung ist da noch mein kleinstes Problem. Aber sie ist der Grund, weshalb ich schon so früh eingeliefert wurde. Ich kriege die Tage einen Herzschrittmacher. Mein altes Herz ist doch ziemlich holprig." Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Von Medizin habe ich keine Ahnung. "Darf ich fragen, wie alt Sie sind?" "91." "91?" Ich verschlucke mich beinahe und huste mit Karl-Heinz um die Wette. Er hat den Krieg mit erlebt, er... in ihm schlummert so viel verdrängtes, soviel Schreckliches aus einer fast vergessenen Zeit, soviel, das er mit ins Grab nehmen wird. Aus Leuten wie ihm besteht die Geschichte. Das weiß ich wegen des Zeitzeugenberichtes, den Mila und ich letztes Jahr für ein Geschichtsreferat hatten verbereiten müssen. Wir haben meine Oma im Altenheim besucht, weil sie den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, und dann haben wir ihr fragen erzählt und manchmal hatte sie beim Reden ganz glasige Augen, als sehe sie die längst vergangenen Geschehnisse wieder und wieder. Und dann hat sie geweint. Es war schrecklich. Es hat sie total aufgewühlt. Eine Woche später ist sie gestorben und damals glaubte ich, es sei Schicksal, dass sie vorher noch mit uns über das geredet hatte, was sie seit ihrer Jugend zu verdrängen versuchte. Insgeheim glaube ich das auch heute noch. Mila hatte früher eine Schwäche für Geheimnisse und elfenhafte Fantasien. Dann saßen wir uns im Schneidersitz gegenüber und sie hat ihre dunkelbraunen Wellen zurückgeworfen, hat mit ihrem rosigen Kinderfinger das blasse Gesicht gekratzt und mich mit ihren blauen Augen wachsam angesehen. Sie hat ganz geheimnisvoll getan und da wurde ich auch ganz aufgregt. "Das mit deiner Oma ist unser Geheimnis", hat sie geflüstert. "Sie ist unsere Verbündete." "Eine sehr schweigsame Verbündete", habe ich dann zu verstehen gegeben, weil Oma ja tot war. "Sie redet bestimmt noch mit uns, weil wir in ihre Jugend durchgebrochen sind", meinte Mila dann. Und so haben wir Tag für Tag nach der Schule einen Abstecher zum Friedhof gemacht und haben vor ihrem Grab gewartet, dass sie mit uns redet, während andere Kinder zum Badesee fuhren, denn es war Sommer. Aber der Friedhof war für uns ein magischer Ort voller schweigsamer Verbündeter. Am Anfang saßen wir einfach nur stumm und gespannt neben der Erde von Oma's Grab und haben gewartet. Später dann haben wir uns Kuchen vom Bäcker mitgenommen, haben mit Stöcken Hüpfkästchen in den roten Kies geritzt und sogar Hausaufgaben gemacht. Mila war der Annahme, man werde schlauer und weiser, wenn man seine Schulaufgaben am Grab einer Zeitzeugin machte. Und wir wurden immer einfallsreicher und fanden immer mehr Methoden, unsere Zeit auf dem Friedhof rumzuschlagen. Wir grossen Blumen, spielten Verstecken, fragten Vokabeln ab, unterhielten uns mit dem Gärtner und suchten älteste und jüngste Gräber raus. Irgendwann gaben wir unseren schweigsamen Verbündeten sogar neue Namen. Meine Oma hieß dann nicht mehr Ingeborg, sondern Lissila. Es gab auch eine Nepemuk und eine Joyee und einen Juskushus. Wie gesagt, wir waren sehr einfallsreich. Kurz vor den Sommerferien, wir saßen vor Lissila's Grab und dachten uns eine Geheimsprache aus, da wurde Mila plötzlich ganz hektisch. "Psst", hat sie gemacht und mit den Armen gewedelt. "Da ist sie! Sie redet mit uns." Und sie hat zwischen die Blumen des Grabes gedeutet und da war wirklich meine Oma. Es kann auch sein, dass es die Sonne war, die durch die Blätter der Birke schien und die Staubpartickelchen erleuchtete, doch es sah so aus. Und wir haben ihre Stimme gehört. "Ich mag Lissila", hat sie grflüstert. Und dann hat sie erzählt, dass sie gerne unsere Verbündete war.

Eine Verbündete - Mila? Ist sie nun die Verbündete aller Verbündeten? "Alles in Ordnung, Kind?", drang Karl-Heinz' Stimme zu mir durch. Ohne dass ich es bemerkt habe, rollen Tränen über mein Gesicht und sprenkeln die weiße Decke. "Alte Zeiten", schniefe ich und kuschele mich ins Kissen zurück. Und hoffe darauf, dass es nicht mehr lange dauert, bis ich in Mila eine magische Verbündete sehe und nicht meine tote beste Freundin.

*******************

Heii, sorry, dass das Kap erst jetzt rauskommt, aber ich habe Prüfungsstress! :O Aber ich hoffe, euch gefällt es trotzdem. :) Bitte hinterlasst ein paar Kommis und votet schön für Alitschiii ♥♥

Leukämie-mein Leben danachWhere stories live. Discover now