Kapitel 23

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Lea's Sicht

Ich ziehe die Vorhänge beiseite und öffne das Fenster, um die beißend stickige Luft zu vertreiben. Dann setze ich mich mit Bedacht auf ihr Bett und lege die Hand auf ihr Gesicht, dann auf ihr Herz. Ich weiß, dass es schlägt, aber ich habe Angst, es könne jeden Moment aussetzen. So wie die Angst sich anfühlte, als sie vor zwei Wochen, am ersten Advent einfach umkippte. Noch heute jagen mich eilige Sanitäter, die sich unverständliches zurufen und piepsende Herzschlaganzeigegeräte der Intensivstation im Schlaf, bis sie mich kriegen und ich herkommen muss, um mich zu versichern, dass ihr Herz schlägt und wie sich ihre Brust beim Atmen hebt und senkt. Ich schaue nach draußen, wo sich im Osten ein lila Streifen zeigt. Früher Morgen. Ich fühle nach ihrer Hand und greife danach. "Wach auf!", flüster ich und lächele.

Als sie noch im Krankenhaus lag, hatte ich Angst, sie werde eines Tages in einem kalkweißen Raum, an hunderte Kabel gesteckt erwachen und vor lauter Schreck gleich sterben. Zum Glück haben die Ärzte sie vor drei Tagen nach Hause verfrachtet und seit dem ist sie nicht aufgewacht. Ich bin pausenlos bei ihrer Familie, zur Schule gehe ich nicht mehr, aus Angst, dass ich nicht da bin, wenn sie ihre letzten Worte haucht und für immer dahingleitet. Dass sie schon in diese Kiste gesperrt ist, wenn ich komme, aus der ich sie nie befreien könnte.

Warum ich mir so Sorgen mache? Weil sie jetzt schon 2 Wochen länger lebt, als der Arzt vorrausgesagt hat. In zwei Wochen ist Weihnachten. Die Chancen, dass sie dann noch lebt, stehen schlecht, aber die Vorstellung, sie nicht unter dem Christbaum sitzen zu sehen ist unvorstellbar.

Was die alte Dame anbelangt, mache ich mir ebenfalls Sorgen, denn sie lässt sich nicht mehr blicken. Ob sie gestorben ist, still und heimlich, dort, wo sie wohnt, einem Ort, den niemand kennt?

Noch dazu ist wohl ein neues Mädchen in unsere Klasse gekommen, nicht dass ich sie gesehen hätte, ich gehe ja nicht mehr zur Schule, aber ich wurde durch einen Brief darüber informiert.

Mama bekomme ich ebenfalls selten zu Gesicht in letzter Zeit, da sie sich kopfüber ins Berufsleben gestürzt hat, seit sie nicht mehr im Krankenhaus ist und nun beim Tierarzt als Assistentin jobbt. Der Schmerz über den Verlust des Cafés sitzt noch immer tief, jedoch hält die Hoffnung, es irgendwie wieder zu reparieren,  über Wasser und gibt ihr Kraft.

Und ich, ich sitze hier bei der Familie meiner besten Freundin, tröste sie, werde getröstet, helfe Hannah, spiele mit Magda, gehe Markus zur Hand, erwache aus den Träumen, öffne das Fenster, schlafe auf dem Boden ein und erwache wieder.

Recht eintönig, aber das ist alles, was ich tun kann.

"Mila", sage ich leise und schlage ihre Decke zurück, damit sie mehr von der herrlichen Winterluft hat, die durch das Fenster hereingeweht kommt.

Ich nehme das aufgeschlagene Buch und lese weiter daraus vor, weil ich weiß, dass sie es irgendwie hört und weil ich weiß, dass es sie glücklich macht, eine Stimme zu hören,  in der Welt hinter ihren verschlossenen Augen. Ihr Körper liegt hier, sie atmet hier, doch wo ist ihre Seele? Was erlebt sie in diesem Moment? Wohl kaum ein riesiges, aufgeblasenes Nichts. Ich lege das Buch beiseite und mache mir Gedanken über das große Vielleicht, durch das sie schwebt. Bestimmt ist es schön dort.

Mit einem Mal zucken ihre Lider, sie schmstzt leise, hebt die Hand an den Kopf, doch ich springe nicht auf, sondern sehe sie lächelnd an, während ich darauf warte, dass sie die Augen öffnet.

Und dann blicke ich in das atemberaubend kräftige Blau ihrer Augen, ein Tunnel, dessen Ende ein leuchtend schwarzer Kreis ist, der zu dem großen Vielleicht führt.

"Hi", sage ich. "Hi", erwidert sie und lacht ein zartes Lachen. Ich lächele. "Was hast du gesehen?", frage ich neugierig und lege meinen Kopf auf ihren Bauch. "Menschen", sagt sie. "Genauer!" "Glückliche Menschen." "Was taten sie?" "Sie lachten. Sie umarmten einander. Sie halfen einander. Sie ließen bunte Ballons in die Luft steigen." "Kanntest du sie?" "Nein, es waren fremde Menschen. Aber ich mochte sie." "Wo waren sie?" "Überall. Alles war voll glücklicher Menschen. Keiner war allein und keiner war arm, keiner reich." "Warst du auch dort?" "Oh nein, ich war nicht dort. Ich war im Himmel." Erschrocken hebe ich den Kopf und sie lächelt schief. "Keine Sorge, ich bleibe noch ein wenig. Aber ich habe Hunger. Gibt es was zu essen?" Ich nicke. "Warte kurz", sage ich, "ich hol dir was."

Und so trabe ich die Treppen hinunter, in die Küche, schmiere Brote und schäle Äpfel, überglücklich darüber, dass Mila wieder bei uns weilt. Ich weiß, dass es nichts für die Ewigkeit ist, aber sie ist noch da. Und solange sie da ist, bin ich glücklich. Ich wende mich ab, um mit dem Tablett die Treppe hochzugehen, doch dann laufe ich einem jungen, hübschen Mädchen mit braunen lieblichen Locken und unglaublich grünen Augen in die Arme und lasse alles fallen.

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Naa, wer glaubt ihr, wer das Mädchen ist und wird Mila Weihnachten noch leben? Ich weiß es, aber ihr nicht, also schreibt eure Meinung in die Kommis! Vorträglich euch allen Schöne Festtage und einen guten Start in die Ferien! :-*
Alitschi

Leukämie-mein Leben danachحيث تعيش القصص. اكتشف الآن