Kapitel 31

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Hannah's Sicht

"Und was würden sie für einen Grabstein vorschlagen?", frage ich mit brüchiger Stimme. Markus und ich sind zum Bestattungsinstitut gefahren, mit dessen Angestelltem wir nun das Grab und die komplette Beerdigung planen. Es tut im Herzen weh, aber ich habe mir geschworen, mich zusammenzureißen. "Nun, die gibt es natürlich in allen Arten und Preisklassen. Die in Mamor zum Beispiel sind teurer als die aus einfach geschliffenem Stein." Herr Prolinski, so heißt dieser Angestellte, nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, bevor er fortfährt. "Beliebt sind aber auch Formen wie Engel oder Kreuze."

Ich werfe Markus einen fragenden Seitenblick zu. Wir haben ein Budget festgelegt, das wir nur ungern überschreiten. Für ein Kreuz oder gar einen Engel würde es vermutlich gar nicht reichen. Markus scheint denselben Gedanken zu haben. "Nein", sagt er. "Wir nehmen einen einfach geschliffenen Stein." "Nun gut, wie Sie meinen. Hell, dunkel, haben Sie schon spezielle Vorstellungen? Auch was die Größe anbelangt." Wieder tauschen Markus und ich fragende Blicke. Mir steigt das Ganze langsam zu Kopf - Herr Prolinski tut so, als würde er einen Fernseher versteigern, anstatt die Form von Mila's Grabstein zu besprechen. Immerhin ist hier jemand gestorben, dazu noch ein junges Mädchen! Unsere Tochter! Geht ihm das nicht irgendwie nahe? Markus atmet geräuschvoll ein. "Welche Farben und Größen würden Sie denn empfehlen, Herr Prolinski?" "Ein hellerer Grabstein wird immer sehr schnell schmutzig - das muss man einfach bedenken. Die dunkleren eignen sich da schon besser. Außerdem passen Sie auch besser auf einen Friedhof. Ein Tod ist ja auch immer traurig." Aha. Pfff, traurig. Wie er das schon sagt! Als hätte sein Lieblingsverein ein Spiel verloren! "Entschuldigen Sie mich kurz!" Ich stoße den Stuhl so heftig nach hinten, dass er umkippt. Ehe ich aufschluchzen kann, presse ich mir ein Taschentuch vor den Mund und stürze zur Tür hinaus.

Die Damentoiletten liegen nicht weit entfernt. Kurz entschlossen renne ich hin, stoße die Tür auf und verbarrikadiere mich in einer der Kabinen. Hier ist niemand, der meine Tränen daran hindert, meine Wangen hinunterzuströmen. Hier bin ich allein. Ich sacke auf die Klobrille hinab und weine, weine und weine. Dann spüre ich, wie eine säuerliche Substanz meinen Hals emporkriecht und reiße die Toilette auf, nur, um mich Sekunden später darin zu übergeben. Ich drücke die Spülung und lehne mich an die Wand. Ganz lange sitze ich da, stumm und starr, die Augen geschlossen. Es kann sein, dass es nur fünf Minuten waren, aber es kann sich auch um eine Halbestunde gehandelt haben, als sich die Tür zu den Damentoiletten öffnet. Ich weiß es nicht, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, seit Mila tot ist. "Hannah!?" Es ist Markus. Ich rühre mich nicht, lasse meine Augen weiterhin geschlossen. "Hannah, komm da raus!" Er hämmert gegen meine Tür. "Bitte, lass uns das fertig bringen!" "Das hat doch alles keinen Sinn, Markus", schniefe ich. "Aber Mäuschen! Glaubst du nicht, Mila hat ein schönes Grab verdient? Es stimmt, Herr Prolinski ist nicht gerade der verständnisvollste, aber wenigstens hat er Ahnung und kann uns begraben. Er kann sogar eine Visagistin bestellen, die Mila einkleidet und schminkt, damit sie für ihre Beerdigung schön aussieht." "Ich kann das alles nicht mehr", hauche ich kraftlos vor die Wand. "Ich habe nie gewusst, dass ein Tod so... geschäftlich enden kann. Am liebsten würde ich allein auf irgendeine einsame Insel fahren, damit ich vergessen kann, ohne das jemand den Schmerz in mir von neuem aufkratzt." "Du darfst doch nicht vergessen, Hannah! Die wundervollsten 14 Jahre darfst du doch nicht einfach aus deinem Leben verbannen!" "Wieso kannst du das so gut?" Ich raufe mir die Haare. "Ich bin auch traurig", flüstert Markus. "Aber ich bleibe stark. Für dich. Weil ich dich liebe. Und nicht mit ansehen kann, wie du vor meinen Augen zerbrichst." Ich lache traurig  und leise. "Das hast du schön gesagt."

Magda's Sicht

Oma ist die beste Oma. Weil sie Kekse backen kann und Stofftiere wieder zunähen und tolle Zöpfe flechten und Märchen vorlesen. Und heute ist sie die allerbeste Oma, die man sich wünschen kann. Als Mama und Papa mich hergefahren haben, weil sie einen 'wichtigen Termin' haben, haben sie gesagt, ich soll Oma ein bisschen aufheitern, weil sie jetzt nur noch zwei Enkelinnen hat, Sofia und mich. Aber als ich ankam, hat sie in der Küche gesessen Kuchenteig gemacht. Das kann sie nämlich auch ganz toll. Sie hat gesagt, sie braucht nicht traurig sein, weil Mila immer noch da ist und weil sie ja noch zwei der besten Enkelinnen hat, die man haben kann.

Und dann haben wir gebacken, Oma, Sofia und ich. Sofia ist später noch nachgekommen, als sie gehört hat, dass ich bei Oma bin. Später haben wir den Kuchen gegessen, bis wir pappsatt waren.

Und jetzt, jetzt liest sie wieder vor. Hänsel und Gretel. Sofia darf auf ihrem Schoß sitzen, weil sie ganz viel geweint hat wegen Mila. Oma sagt, sie ist ganz schön dünn geworden. Das stimmt auch. Sofia war nie dick, aber jetzt ist sie so hager, dass es nicht mehr schön aussieht, auch trotz des vielen Kuchens. Sie hat fiese, tiefe Schatten unter den Augen und ist so blass, dass ihre blauen Augen besonders leuchten. Nur ihre Haare sind wie immer. Schwarz und dicht und glänzend. Heute ist sie, glaube ich, wieder einigermaßen fröhlich gewesen, aber als Oma die Stelle vorliest, in der Gretel die Hexe in den Ofen schiebt, vergräbt sie das Gesicht in den Händen und beginnt zu weinen. Ganz laut und 'herzzerreißend', so wie Mama jetzt sagen würde. "Aber das ist doch nur ein Märchen, Sofia!", rufe ich vorwurfsvoll. Und Oma sagt: "Pssst, nicht weinen, Schätzchen, das ist nicht gut für dein hübsches Gesicht." "Kohommt sie auhuch nohoch mal zurühück?", schluchzt Sofia. "Sie muss nicht zurück kommen, weil sie gar nicht erst gestorben ist. Nicht in deinem Herzchen", meint Oma und tätschelt ihre Wangen. "Natürlich ist die Hexe weg!", entrüste ich mich. "Willst du etwa, dass sie zurückkommt?" Für eine Weile hält Sofia inne und sieht mich in einer Mischung aus erstaunt und verblüfft an. "Mila ist doch keine Hexe!" "Ach, ihr redet von Mira!" Jetzt macht auch alles einen Sinn. Natürlich, warum sollte Sofia auch weinen, wenn im Märchen die böse Hexe stirbt? Jetzt packt mich das Mitleid und ich klettere auf die Lehne des Ohrensessels, um meine kleine Hand in ihre zu legen. "Weißt du, was sie mir gesagt hat?", sage ich strahlend. Sofia schüttelt ihren Kopf. Ich beuge mich vor, sodass meine Lippen ihre Ohren berühren. "Sie hat gesagt, sie wartet am abderen Ende auf uns, aber solange wir noch hier sind, sind wir hier drin", flüstere ich und klopfe sachte auf ihre Brust. "Im Herzen." Sofia schnieft in das Taschentuch, das Oma ihr gereicht hat. "Sie wartet auf uns?" "Ja." Ich nicke bekräftigend. Oma streicht meine Haare hinters Ohr und lächelt mich an. "Du bist ein kleiner Engel, Magda."

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Alitschi xx

Leukämie-mein Leben danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt