Kapitel 22

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Mila's Sicht

"Wir reden oft über den Tod", sage ich dem Reporter und strahle in die Kamera. Mama sitzt etwas unbeholfen neben mir und versucht, ein Lächeln zustande zu bringen, aber mir war von Anfang an klar, dass sie es nicht schafft.

Am Freitag klingelte ein Herr von der Presse und bat um ein Interview, da ich (und ich weiß bis jetzt nicht wie) anscheinend über Nacht berühmt geworden bin und jetzt (heute ist Sonntag, also der erste Advent) präsentieren sie mich der Welt. "Ist es nicht komisch, zu wissen, dass es jeden Moment passieren könnte?", fragt der Reprter und ich starre in die kleine Flamme der einsam brennende Kerze am Adventskranz. "Ach", sage ich schließlich, "irgendwie glaube ich nicht, dass ich einfach so tot umfalle. Ich meine, sowas spürt man vorher, verstehen Sie? Und im Moment halte ich mich ja noch ganz gut."

Und so geht es in einem fort. Aber als der Reporter wissen will, was ich mir zu Weihnachten wünsche, zuckt Mama neben mir zusammen und es ist, als weiche jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. "Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht, aber... wenn ich es mir so recht überlege, wünsche ich mir, dass die Menschen besser miteinander umgehen. Der Krebs hat meine Welt völlig verändert. Ich schlichte Streit sofort, weil ich nicht weiß, ob ich noch leben würde, wenn der andere es tun will. Ich weiß, es ist kompliziert, aber so sehe ich das nun mal. Vielleicht kommen einem so Gedanken, wenn man praktisch im Sterben liegt." Ich ringe mir ein Lachen ab, aber mit einem Mal fühle ich mich schwer, als fließe Blei durch meine Adern und nicht Blut. "Und was wünschen Sie sich?",versucht der Reporter Mama ins Gespräch einzubeziehen. Mama räuspert sich. "Ich will es hier feiern dürfen." Und sie macht eine Geste, die das Wohnzimmer umschließt. Papa, der Magda auf dem Schoß hat, wirkt traurig und Lea flüchtet sich in den Arm ihrer Mutter. Was haben sie bloß alle? Dann verstehe ich. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich Weihnachten noch lebe, im Gegenteil: Sie denken, ich werde vorher sterben. Und deswegen auch Mama's unsinniger Wunsch. Er ist nicht unsinnig. Sie will Weihnachten hier verbringen und nicht in einem sterilen Krankenhauszimmer oder auf der kalten Erde des Friedhofes. Ich schnappe nach Luft. Auf einmal dreht sich die Welt, immer schneller und schneller. Ein Stechen jagt durch meinen Kopf. Ich bekomme gerade noch mit, wie sich die Presse verabschiedet und verschwindet. Jemand fragt, ob alles OK sei, ich glaube, die Stimme stammt von Papa. Jemand gibt einen wehmütigen Laut von sich; verschwommen denke ich, dass er von mir stammen könnte. Ich fasse meinen Schädel, der zu explodieren scheint. Verschiedene Stimmen reden aufgeregt durcheinander. Der Boden kommt immer näher, jemand greift nach meinem Arm und schreit, ein anderer brüllt mir etwas zu. Dann schlage ich auf. Mit dem Hinterkopf oder so, jedenfalls ist mein Verstand wie benebelt. Ich liebe euch alle, denke ich und dann scheinen die Schmerzen aus mir herauszusickern. Was bleibt ist ein unglaublich schwereloses Gefühl und ich gleite in dieses Nichts davon...

☆☆☆

Die Sicht der alten Frau

Ein Zittern überkommt mich, mein ganzer Körper scheint zu vibrieren. Jetzt ist es so weit, sage ich mir und beobachte fasziniert, wie meine krumme, alte Hand glatt wird und sich schließlich in eine rosige Mädchenhand verwandelt. Ich fahre über mein Gesicht; die Haut protzt vor jugendlicher Spannkraft. Meine Beine begradigen sich, mein Rücken nimmt seine ursprüngliche Form an und mit einem Satz bin ich zehn Zentimeter größer. Braunes, weiches Haar kräuselt sich über meine Schultern. Meine Brust, mein Bauch werden schlanker und geschwungener. Mein Kopftuch löst sich in Luft auf und zurück bleibt ein rosa Haarband. Die zerlumpten Kleider, die ich trage, wehen davon und einen Wimpernschlag später trage ich enge Jeans und eine fluffige, weiße Bluse.

Keuchend betrachte ich mich im Spiegelbild. Ich habe mich in ein junges Mädchen verwandelt, in eine 15-Jährige, deren Körperhaltung vor Lebensfreude und Selbstbewusstsein protzt. Ich habe das Alter überwunden, wieder einmal. Wieder einmal erlebe ich alles von vorne: Schule, Studium, Ehe, Kinder, wie ich immer einsamer; älter werde und schließlich wieder ein sterbendes Kind durch die letzten Wochen begleite und mich zurückwandele.

Ich schaue dabei zu, wie sich meine Augen um die Farbe streiten. Grau, grün, blau, grau, Mischtöne. Binnen Sekunden verändert sich die Farbe wieder. Das einzige, woran man erkennt, dass ich nicht normal bin. Meine sich ständig verändernde Augenfarbe.

Aber eine Frage drückt sich mir auf: Weshalb schon jetzt?

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Heey ♡ Ja, ich weiß, nicht besonders lang, aber mehr hat dieses Kapitel eben nicht zu bieten. Es bleibt weiterhin spannend, also fleißig kommentieren! :D

Leukämie-mein Leben danachKde žijí příběhy. Začni objevovat