Kapitel 34

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Mila's Sicht

"Und du bist also ihre Ur-Enkelin?", hakt Lydia nach und deutet auf Ur-Oma. Ich nicke bestätigend. "Genau." Ein verschmitztes Grinsen legt sich über ihr Gesicht. "Das sieht man." Ich kann nicht anders, ich muss zurücklächeln. Neugierig sehe ich mich um. So viele nette Leute in weißen Gewändern. Ich verstehe gar nicht mehr, warum ich mich vor dem Tod gefürchtet habe. Dieses schwerelose, freie Gefühl ist besser als alles auf der Erde. Nur die Sache mit dem Vergessen nagt ein wenig an mir.

Mit einem Mal schreitet ein Mädchen an uns vorbei. Sie hat eine Haut mit südlandischem Teint, das Gesicht ist glatt und makellos. Die großen braunen Teddybärenaugen passen perfekt in die sanften Züge. Die Haare fallen ihr glatt und pechschwarz auf die Schultern hinab. Im strahlenden Licht der Sonne glänzen sie unwahrscheinlich schön. Eine Weile legt sie genießerisch die langen Wimpern nieder, nur um meinen Blick drei Sekunden später einzufangen. Mir stockt der Atem bei der unfassbaren Intensität dieser Augen. Nachdem das Mädchen mich gemustert hat, zuckt es um ihre Mundwinkel herum und sie formt die Lippen zu einem lieblichen Lächeln. Dann wendet sie sich ab und schreitet davon. Ich finde sie wunderschön. Selbst die zerbrechlich wirkenden, dürren Mädchenbeine haben etwas zierliches, etwas, das sie elegant macht. Es gibt einen Punkt an ihr, der mich besonders fasziniert. In Bauch sowie in Rücken ist eine Stelle im Gewand, die heller ist als weiß. Sie sieht aus wie ein runder, gleißender Schein. "Pegah ist sechzehn", unterbricht Ur-Oma meine Gedanken. Anscheinend ist sie meinem Blick gefolgt. "Sie sieht bildhübsch aus", hauche ich. Erst dann komme ich zu Sinnen und blinzele, ehe ich meinen Blick von dem Mädchen abwende. "Pegah heißt sie?" Ur-Oma nickt. "Sie kommt aus Indien." "Sie sieht gar nicht aus wie sechzehn", wundere ich mich. Lydia und Ur-Oma wechseln kurze, bedeutungsvolle Blicke, dann fangen sie synchron an zu lachen. Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis ich die beiden verstehen lerne. So plötzlich sie angefangen haben zu lachen, so plötzlich hören sie auch wieder auf. "Sie zieht immer alle Blicke auf sich", erklärt Lydia rasch, während sie beginnt, ihr schwarzes, wildes Haar mit den Fingern zu kämmen. "Warum leuchtet sie so am Bauch und am Rücken?", bohre ich weiter. "Liebes, das musst du nicht uns fragen. Du bist frei, suche dir Freunde. Alle hier sind deine Brüder und Schwestern." Ur-Oma macht eine umschweifende Handbewegung. Ich zögere. "Aber ich kenne mich hier doch gar nicht aus." Erneut prusten die beiden los. "Du wirst dich schon zurechtfinden", sagt Ur-Oma schließlich und berührt flüchtig meine Wange.

Nach kurzen Worten des Abschieds mache ich mich auf den Weg. Beim Laufen habe ich das Gefühl, die Wolken würden sich bewegen und nicht die Füße. Es ist absurd, wie wenig Körpergewicht man hier oben hat. Ich gehe im Eilschritt, da ich Pegah unbedingt sprechen will. Sie ist für mich einer dieser Menschen, von denen man glaubt, sie lieben zu können. Im entfernten Sinne natürlich. Aber ich glaube, bei ihr würde ich mich wohlfühlen. Sie schien vom ersten Blick klar und liebevoll. Halbherzig drängele ich mich durch die Leute, jedoch wirkt es nicht, als nähme mir das irgendwer übel. Dafür herrscht hier definitiv zu starke Nächstenliebe. Während ich mit meinen Augen die Wolkenlandschaft absuche, fällt mein Blick auf Gerlinde, die auf einem Hügel sitzt und ihr Baby wiegt. Das goldene Haar fällt über ihre rechte Schulter und leuchtet richtig. Ich ringe mit mir selbst, ob ich nun zu ihr gehen oder weitersuchen soll. Ich entscheide mich für letzteres. Nach wenigen Minuten werde ich sogar tatsächlich fündig: Pegah fliegt fast über die weiße Watte; von ihr geht ein unglaublich starker Rosenduft aus. Wie in Trance taumele ich dem Duft hinterher. Als ich nah genug bin, öffne ich den Mund. "Pegah?" Sie bleibt stehen, um sich lächelnd zu mir umzudrehen. "Da bist du ja!" Unerwartet schließt sie mich in eine herzliche Umarmung. Nach kurzem Zögern erwidere ich diese vertrauliche Geste und schlinge ebenfalls meine Hände um ihren knochigen Körper wie ein Schraubstock. "Bist du schon lange tot?" Die Frage kommt aus meinem Mund, ehe ich richtig drüber nachdenken kann. "Eine Woche", antwortet Pegah überraschenderweise genauso prompt. "Ich, äh, ich bin seit einem Tag hier." "Seit zwei", lacht Pegah. Aber sie lacht nicht wie Lydia und Ur-Oma, sie lacht glockenhell und weich. Wie ein Engel. Wäre ich nicht so verwirrt wegen ihrer Aussage, wäre ich glatt miteingestimmt. "Woher weißt du das?", frage ich erstaunt. "Mir ist aufgefallen, dass du neu bist", antwortet sie. "Ab da hab ich dich beobachtet und gewartet, bis du mich ansprichst." "Warum...?", setze ich an, spreche den Satz aber nicht aus. Pegah legt ihren sonnengebräunten, mageren Arm um meine Schulter. Ich merke fast nichts davon. "Ich wollte mit jemandem reden, der sich noch erinnert", erklärt sie lächelnd. Zum ersten Mal sehe ich ihre Zähne. Groß und weiß, einfach genau perfekt. "Du hast also davon gehört?", frage ich mit gekräuselter Stirn. Pegah nickt. "Natürlich hab ich." Sie sinkt vor mir in einen Schneidersitz herab. "Also: erzähl mir alles, an das du dich noch erinnerst", fordert sie mich auf. Ohne zu zögern setze ich mich neben sie und lege los. "Also, ich bin vierzehn Jahre alt. Im September kam die Diagnose: Leukämie. Erst war ich total am Boden, aber dann hab ich gemerkt, dass es keinen Sinn hat, hinter verschlossenen Türen auf den Tod zu warten. Es musste weitergehen. Also hab ich mich der Welt gezeigt. Ich war in einem Chor, und in meinen letzten Wochen haben wir unsere erste CD aufgenommen. Ich habe eine kleine Schwester, Magda heißt sie, und meine Cousine Sofia. Zusammen hatten wir immer viel Spaß. Meine Mutter hat manchmal genervt, wie alle Mütter eben, aber ich hab sie trotzdem geliebt. Und mein Vater war mein Vater halt. Ich war seine Prinzessin. Aber der wichtigste Mensch für mich war meine beste Freundin Lea. Wir sind zusammen durch dick und dünn gegangen, wir waren wie Seelenverwandte. Außer uns hatten wir keinen. Für sie muss es am schrecklichsten sein." Kurz und knapp, aber ohne jegliche Gefühle. Trotzdem scheinen meine Worte Pegah nachdenklich zu machen. "Ich hatte keine Eltern", beginnt sie leise. "Ich war ein Straßenkind aus Mumbay. Das ist eine Stadt in Indien, das weißt du doch, oder?" Ich nicke kurz. "Klar weißt du. Jedenfalls hab ich mit den anderen Straßenkindern in einer Papphütte gelebt. Wir sind von Ort zu Ort gezogen, haben geklaut, gebettelt, haben alles untereinander aufgeteilt. Wir waren unsere eigene Familie. Das Leben war an manchen Tagen schön, an manchen auch wieder nicht. Als ich dreizehn war, kam ein Mann und hat uns eingesammelt. Er sagte, er bringt uns nach Hause. Hat er aber nicht. Uns Mädchen machte er entweder zu Straßentänzerinnen oder zu Prostituierten, die Jungen mussten für ihn klauen. Jeder 100 Dollar am Tag, sonst wurden sie bestraft. Ich habe nie erfahren wie, aber es muss fürchterlich gewesen sein. Nie kam ein Junge mit weniger als 100 Dollarn zurück. Ich hatte weniger Glück. Ich wurde zu einer Prostituierten. Es war ekelig. Du weißt gar nicht, wie viele Männer es gibt, die einen Haufen Geld bezahlen, um mit Minderjährigen zu schlafen. Aber eines Tages, kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag, kam ein Mann, der mich entführt hat. Ich hab mir eingeredet, er will mich befreien, doch dann hat er dieses monströse Messer rausgeholt. Ich bin gerannt und gerannt und ich weiß nur noch, dass ich zu Boden gestoßen wurde und die Klinge meinen Bauch durchbohrte. Das Messer war so lang und ich war so mager, dass es hinten wieder rauskam. Es ging wie Butter, einfach durch. Erst war da Schock und ich hab nichts gespürt. Doch mit dem Schmerz kam das ganze Blut. Alles wurde nebelig. Und hell. Ich wurde immer leichter. Und dann war ich hier." Pegah deutet auf die Wolkenwelt. "Und das war vor einer Woche?" Meine Stimme ist zittrig. "Ja. Das war vor einer Woche."

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Leukämie-mein Leben danachWhere stories live. Discover now