Kapitel 30

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Mila's Sicht

Mit einem Ruck werde ich in das Regenbogenlicht gezogen, das alles um mich herum verschluckt. Es wirbelt und flackert lebhaft um meine Hände, Füße und tunkt das weiße Kleid in Farben.

Als ich heraustrete, bin ich erst einmal geblendet von der Sonne, die sich als riesiger strahlender Ball am Himmel zeigt. Dann höre ich Kinderlachen und als ich schließlich die Augen öffne, ist da eine Landschaft aus Wolken und Licht. Alte und junge Leute, die alle weiße Gewänder tragen wie ich, toben über die Wolkendecke.

Meine Ur-Oma kommt auf mich zugehinkt und greift nach meiner Hand. Überraschenderweise ist sie warm und fest, anstatt dass ich ins Leere greife. "Willkommen", sagt sie lächelnd. "Hallo", hauche ich erfürchtig, während ich in ihre stahlblauen Augen starre. Sie ist gestorben, als ich eingeschult wurde und ich kannte sie bloß als alte, kranke Frau im Bett. Aber hier hat sie rosige Wangen, ein gesundes Lächeln und einen schwerelosen Körper. 

Es ist komisch, ihr hier auf einmal zu begegnen. "Komm mit", sagt sie und gibt mir einen sanften Schubs. "Wohin?", frage ich blinzelnd. "Zu Gott. Er wird dich Willkommen heißen. Da ich deine Patin bin, ist es meine Aufgabe, dich zu ihm zu führen." Ich lasse mich von ihr durch die Wolkenhügel führen. "Patin?" Ur-Oma nickt lächelnd. "Ja, genau. Das hier ist ein ziemlich ausgeklügeltes System und es gibt eine Menge, das dir erklärt werden muss. Dafür gibt es Paten. Jeder hat einen, meistens Verwandte oder Freunde. Meine Patin ist meine Cousine Lydia, die mit 18 an einer schweren Grippe starb." "Oh", mache ich bedrückt. "Hätte sie keine Medikamente dagegen nehmen können?" "Liebling, das war 1927. Damals waren die Ärzte noch nicht so weit." Stimmt. Daran sollte ich wohl denken. "Gewöhnt man sich irgendwann an diese Schwerelosigkeit?", frage ich dann, um das Thema zu wechseln. "Natürlich." Schweigend laufen wir weiter durch die weiße Landschaft und durchkreuzen die Wege von tausenden anderen Toten. Alle lächeln uns zu, nicken, winken, grüßen. So viel Liebe und Wärme habe ich in meinem ganzen Leben nicht empfangen. Eine junge Frau trägt sogar ein Baby im Arm. Durch ihre honigfarbenen, wallenden Haare und die grünen Augen ist sie wunderschön. Sie kann nicht älter als zwanzig sein und das Baby... - "Das ist Gerlinde. Aus dem 18. Jahrhundert, eine der ältesten hier. Sie ist im Kindsbettfieber gestorben und das Kind gleich mit." "Oh", mache ich wieder. Dann werde ich stutzig. "Was soll das heißen - eine der ältesten hier?" Ur-Oma zieht mich weiter durch die Wolken. Am Horizont ragt eine Art Schloss empor. "Man bleibt nicht für immer hier. Meist kann man sich nach einiger Zeit entscheiden, ob man wieder geboren werden will, oder ob man ein Amt als Schutzengel einnehmen will. Allerdings für die Ewigkeit." Sie zieht mich über die Treppen des Schlosses. "Man kann wieder geboren werden?", frage ich ungläubig. "Ja, und nu' frag nicht so viel, sondern lauf weiter! Der Herr wartet auf dich." Sie stößt eine Tür auf und ich schnappe nach Luft. Statt einem Saal aus Wolken erwartet mich ein Garten. Ein Paradies aus Bäumen, Schlingpflanzen, bunten Blumem, exotischen Vögeln und Duft und noch mehr Duft. Das ist der Garten Eden, wie er immer in der Bibel beschrieben wird. Das muss er einfach sein.

"Da ganz hinten", flüstert Ur-Oma und weist mit dem Finger nach vorn. "Ich warte vor der Tür."

Im nächsten Moment ist sie verschwunden und lässt mich allein in diesem Garten, in dem Gott auf mich wartet. Die Tür schließt sich unter leisem Quietschen.

Ich schließe die Augen und zwinge mich zur Ruhe, doch ich kann die Aufregung nicht abschalten. Jahrtausende lang haben sich die Menschen Gott vorgestellt - ich persönlich übrigens als alten Mann mit langem, grauen Bart - und nun soll ich ihn völlig überrumpelnd kennenlernen? Im Garten Eden?

Ein kleiner bunter Vogel landet auf meiner Schulter und singt mir ins Ohr.

Und so fasse ich schließlich den Mut, vorzudringen. Ehrfürchtig schreite ich durch den Garten, bis ich unter dem Erklingen einer Stimme zusammenzucke und augenblicklich stehen bleibe. "Sei gegrüßt!" Eine korpulente, dunkelhäutige Frau in bunten Gewändern und einem goldenen Zepter in der Hand tritt aus dem Schatten der Bäume. Mit dem wild geschminkten Gesicht erinnert sie mich fast an diesen Baumgeist von 'König der Löwen'. Schweigend sehe ich sie an und warte auf den Impuls, mich umzudrehen und davonzurennen, doch er bleibt aus. Fehlanzeige. Stattdessen bin ich vollkommen ruhig und tiefenentspannt. "Du bist Gott?", frage ich dann ungläubig. Der Vogel erhebt sich von meiner Schulter und fliegt schnatternd davon. Die Frau nickt und fasst an meine Wange. Ein Flimmern zieht sich prickelnd durch meine Haut, während sie beginnt, lateinische Worte vor sich hinzumurmeln. Komischerweise verstehe ich sie alle. Es ist ein Gebet. Gott betet?, schießt es mir durch den Kopf. Doch Gott unterbricht meine Gedanken, indem sie lossprudelt, diesmal auf Deutsch.

"Du bist hier, weil du aufgenommen worden bist in mein Reich. Ab heute soll es auch dein Reich sein. Eines Tages wirst du auf die Erde zurückfliegen, in die Eizelle einer lieben Mutter. Oder aber du bleibst hier und entscheidest dich, Schutzengel zu werden. Es gibt ein riesiges Haus, in dem für jeden ein Zimmer frei ist. Und noch was: Durch den Tunnel kannst du auf die Erde, um als Geist deine Lieben zu besuchen und zu beschützen." "Ich dachte, das täten die Schutzengel?" "Ein Schutzengel bleibt bei einem Menschen, bis dieser stirbt. Du kannst jedoch jede Zeit zurückkehren." "Und wo ist der Tunnel?" "Überall." Gott's Lächeln zeigt eine Reihe weißer Zähne. "Du brauchst ihn dir nur vorzustellen und dann ist er da. Noch Fragen?" "Ja. Wie alt bist du und warum bist du eine Frau?" Gott lacht und schiebt mich langsam in Richtung Ausgang. "Oh, mein Kind, da muss ich dich enttäuschen. Diese Fragen kann ich nicht beantworten." Seufzend sehe ich auf meine akkuraten Fingernägel. "Auf Wiedersehen", murmele ich, als Gott die Tür öffnet. "Bis bald!"

Und schon stehe ich wieder in der weißen Wolkenwelt. Ur-Oma ist tatsächlich noch da, doch sie ist in ein Gespräch mit einem schwarzhaarigen Mädchen verwickelt, das seltsam dunkle Augen besitzt. Sie sind wild und funkelnd und sie schimmern dunkelrot. Als Ur-Oma mich bemerkt, zieht sie mich direkt zu sich. "Mila, das ist Lydia, meine Patin. Ich habe dir doch von ihr erzählt, nicht wahr?" Schüchtern nickend begrüße ich Lydia, die anscheinend ebenso still ist wie ich. Sie nickt mir bloß kurz zu, während sie mit ihren glänzenden Lakritzhaaren spielt. Wenigstens lächelt sie und ich beschließe, sie zu mögen. "Wie war dein Gespräch?", fragt Ur-Oma strahlend. "Kurz." Ich blicke mich um und versuche, irgendwo das Haus ausmachen zu können, wo ein Zimmer auf mich wartet. Währenddessen beschallt Lydia's Gelächter meine Ohren. "Was war er bei dir?", will Ur-Oma wissen. Verwirrt blinzele ich sie an. "Dunkelhäutig. Es war eine Frau, wohlgemerkt. Ich mag sie", sage ich dann. "Tatsächlich? Das klingt wirklich nett. Bei mir war er ein nackter, junger Mann mit Löwenkopf!" Ur-Oma kichert, doch auf meinem verdutzten Gesichtsausdruck hin, beeilt sie sich zu erklären. "Jeder sieht Gott anders. Er ändert die jeden seine Gestalt. Und für dich ist er eben eine Frau." Sie deutet auf Lydia. "Bei ihr zum Beispiel war ein kleiner Junge mit blonden Locken." Lydia kichert zustimmend. Ich lache der Höflichkeit halber kurz mit, doch dann gebe ich mir einen Ruck. "Ur-Oma, kannst du mir das Haus zeigen? Ich bin müde und würde mich gerne ausruhen." Wieder brechen die beiden in Gelächter aus. Scheint, als hätte man hier oben mächtig viel Spaß.  Gefällt mir. "Das geht nicht mehr, Schätzchen, das bildest du dir bloß ein. Aber ich verstehe, wenn du deine Ruhe haben willst. Komm mit!"

Nach einer knappen, jedoch liebevollen Verabschiedung von Lydia zieht sich mich wieder über die Wolken. "Ich mag Lydia", sage ich, während meine Füße über die weiße Watte gleiten. Ur-Oma lächelt bestätigend und drückt meine Hand. Nach etlichen Bergen, lachenden Menschen und netten Stimmen erreichen wir ein riesiges, wirklich, riesengroßes Haus aus purem Gold. Ich staune nicht schlecht, als ich davor stehe, so groß wie ein Reiskorn im Vergleich zum Eiffelturm. "Wie soll ich mich darin bloß zurecht finden?", jammere ich. "Du bist nicht mehr auf der Erde", lacht Ur-Oma aufmunternd. "Du wirst dein Zimmer auch ohne meine Hilfe finden, du hast es schließlich seit deinem ersten Leben und das ist eine Weile her." Sie schiebt mich über die Schwelle und ich stehe mitten in einer riesigen Halle aus Kristallwänden und Türen und Treppen in alle Richtungen. Hoffentlich werde ich mich tatsächlich zurecht finden!

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Lang, lang ist's her, ich weiß, aber dieses Kapitel bedurfte schließlich auch eine Menge Überlegungen! :D Daher hoffe ich, dass ihr alle ganz kräftig votet und mir Kommentare da lasst! ♥ Das wäre wirklich super lieb von euch. ^^

Leukämie-mein Leben danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt