Kapitel 26

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Mila's Sicht

"Dankeschön!", schreie ich ins Mikrofon, sofern meine angeschlagene Stimme es zulässt. Das Benefizkonzert war ein riesen Hit, denn die Leute sind zahlreich erschienen.

Wir nehmen uns an den Händen und verbeugen uns. "Danke!", rufe ich noch mal. Der Applaus will nicht abnehmen. "Wir danken für euer Erscheinen und erinnern noch einmal an die Spendenboxen. Ihr findet sie am Ausgang und sie sind nicht zu übersehen. Bitte senden auch Sie für Afrika's Straßenkinder!"  Lea hat das Reden übernommen, da meine Stimme mich fast vollkommen im Stich lässt. Nach weiteren, etlichen Verbeugungen und lauten 'Danke!''s, leert sich der Saal allmählich. Mein Kreislauf macht sich mal wieder bemerkbar und die Welt vor meinen Augen beginnt sich zu drehen. Zitternd lasse ich mich auf den Boden sinken und stecke den Kopf zwischen die Knie, um bei Bewusstsein zu bleiben. Seit einigen Tagen habe ich eine Infektion und mein Zustand hat sich stark verschlechtert. Die Ärzte wollten mich gleich ins Krankenhaus einliefern und dort behalten, doch ich habe mich mit Händen und Füßen gewährt, weil ich das Benefizkonzert unbedingt miterleben wollte und das habe ich geschafft. Auch, wenn ich eher als Gespenst aufgetreten bin als als Mädchen. Ich bestehe hauptsächlich nur noch aus Haut und Knochen und meine Hautfarbe gleicht einem Eimer Kalk. Im Gesicht habe ich rote Flecken und ich habe ständig diesen rauen Husten, aber es scheint noch ein Fünkchen Leben in mir zu stecken, sonst wäre ich ja nicht mehr hier. Magda springt auf meinen Rücken, als sie mich auf dem Boden knien sieht. Ich verschlucke mich und huste drauf los. Eine säuerliche Substanz zieht meinen Hals hoch und ich erbreche mich auf den schwarzen Linoleumboden der Bühne. Papa eilt herbei, zieht Magda von mir runter und kniet sich neben mich. "Alles okay?", fragt er. "Ja", krächze ich, aber innerlich schreie ich vor Erschöpfung. Nein, Papa, es ist nicht alles okay! Ich habe Krebs und werde sterben. Gerade ersticke ich zwar fast, aber das ist natürlich kein Grund zur Sorge! Mein Körper gibt unter mir nach und falle auf den Boden, wo ich in einer Art Dämmerzustand liegen bleibe. Alles dreht sich, doch dann ist da dieses Meer, dieser Tunnel und am Ende sehe ich einen Kreis aus Licht. Lächelnd warte ich darauf, dass ich diesen Kreis erreiche, damit er mich fortträgt. In eine Welt, in der alles schön ist.

Lea's Sicht

"Ruft den Krankenwagen!", brüllt Markus und schüttelt an Mila's leblosem Körper. Mein Herz sackt in meine Hose herab. Sie wird doch jetzt nicht...- Panisch krame ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle 112. Am Ende der Leitung meldet sich eine ruhige Frauenstimme. "Hier ist Lea Bauer. Schicken Sie einen Krankenwagen zur Wagnerstraße 26, schnell! Meine Freundin stirbt gerade!" Aus den Augenwinkeln sehe ich die Leute an Mila herumhantieren. "Okay. Es wird gleich ein Notarzt da sein." Ein Klicken in der Leitung. Ich stürze zu Mila und drehe sie auf den Rücken. Oh Gott, sie hat dieses Lächeln auf den Lippen, das man hat, wenn der Schmerz vorüber zieht! Es wird ganz still. Eine hektische Stille, unterbrochen von meinen eigenen, viel zu schnellen Herzschlägen. Markus legt die Fingerspitze an die Seite ihres Halses. "Ihr Puls", flüstert er und reißt die Augen auf. "Was ist damit?", ruft Hannah und verkrampft in ihren Bewegungen. Ich greife nach Mila's Hand und schließe die Augen. Wochenlang haben wir uns vorbereitet und doch ist der Schock größer als das Leben selbst. Ich schlucke mit geschlossenen Augen. "Er wird immer langsamer", dringt Markus' Stimme zu mir durch. Nein nein nein! Ein neues Geräusch kommt hinzu: das Martinshorn des Krankenwagens. Und dann geht alles ganz schnell. Mehrere Männer kommen mit einer Liege hereingerannt und legen Mila darauf. Dann rennen sie zum Wagen zurück. Ich höre nichts mehr. Ich stehe einfach nur da. Schnell wird meine Freundin verkabelt, dann wird die Tür zugeknallt. Einer der Ärzte redet mit Hannah. Der Wagen verschwindet. Und ich stehe immer noch da. Jemand greift nach meiner Hand und zerrt mich in ein Auto. Ich wehre mich nicht, ich blinzele bloß. Ampeln fliegen vorbei, während wir dem Krankenwagen hinterherrasen.

Wir halten am Krankenhaus. Und rennen durch die Flure, doch als wir das Zimmer erreichen, in das Mila gebracht wurde, dürfen wir nicht hinein. Plätschernd tropft das erste Geräusch in mein Ohr: das wilde Piepen von Krankenhausgeräten. Hannah lehnt an der Wand und unterdrückt einen Schrei, Magda hält sich die Augen zu und Markus weint. Einen Wimpernschlag später verstehe ich. Mila wird reanimiert. Ein langer, schriller Schrei erfüllt den Flur. Mein Schrei. Dann werde ich in eine Umarmung gezogen. Ganz verschwommen nehme ich zwei steingraue Augen wahr.

Mila's Sicht

Ich schwebe. Vollkommen schwerelos steige ich immer höher. Aus dem Raum hinaus. Ich kann auf das Krankenhaus niederblicken. Ich sehe meine Familie, ich sehe Ärzte, die um ein Bett rennen. In dem Bett liege ich. Aber das denken sie bloß. Was da liegt ist nur meine Hülle. Ich bin hier und ich sehe alles. Erst denke ich, ich hätte Flügel, aber dann bemerke ich, dass ich von zwei starken Händen immer höher gezogen werde. Weg von dieser Welt, von dieser Krankheit, von den Schmerz. Ich fühle mich endlich wieder jung und mädchenhaft. Doch dann reißt ein Gummiband mich aprubt in meinen schmerzenden Körper zurück. Verschwommen nehme ich das gleichmäßige Piepen wahr. Unzählige Kabel fesseln mich an das Bett wie eine Gefangene. Aber das will ich nicht. Dort, wo ich war, war es schön. Ich öffne die Augen und erblicke sie alle. Mama, Papa, Magda, Lea und Josephine. Ach genau, ich muss mich verabschieden. Als sie bemerken, dass ich wach bin, lächeln sie und seufzen erleichtert. "Du lebst", flüstert Mama, doch ich schüttele den Kopf. "Ich will nicht mehr. Ich gehe gleich", sagt meine Stimme. Mama verliert jegliche Farbe und ich raffe die Kraft auf, ein paar letzte Worte zu sagen. Ich bin so leise, dass es im Raum absolut still ist. "Da oben ist es schön. Und ich kann euch sehen. Ihr dürft mich nur nicht vergessen. Ich möchte nicht wiederbelebt werden, wenn ich gleich sterbe. Alles, was ich will, ist, friedlich aus dem Leben zu schreiten." Ich fühle, wie ich wieder schwerelos werde. "Geh nicht!", fleht eine Stimme. "Wir gehen alle", antworte ich. Dann schließe ich die Augen und höre, wie ein langes, durchgehendes Piepen das Ende meines Lebens verkündet. Ich spüre, wie mein Herz ein letztes, kräftiges Mal pocht. Dann zieht es sich zusammen. Ganz kurz verspüre ich ein Ziepen in der Brust, aber es ist rasch vorüber und übrig bleibt eine angenehme Frische. Tränen tropfen auf mein Gesicht und dann werde ich eingehüllt in ein wunderschönes Licht. Gleißend hell, voller bunter Farben. Vor mir entsteht eine güldene Treppe. Ich greife nach der großen, warmen Hand und ergreife die erste Stufe, mit der Bilder von Magda's Geburt vor mir auftauchen. Mit den nächsten Stufen durchlaufe ich meine Chorzeit. Danach folgen Mama, Papa und Lea. Sie lachen und sind glücklich. Auf der letzten Stufe liegt ein Umschlag. Ich hebe ihn auf. Die Treppe ist zuende. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Ich habe mein Leben hinter mir gelassen. Ich bin aus dieser Welt. Aber das Gefühl, das ich verspüre ist schöner als mein ganzes Leben.

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Jetzt ist Mila gestorben. Da es ein sehr bedeutendes Kapitel ist, bin ich sehr gespannt, was ihr in euren Kommis schreibt! :p :) Es war sehr komisch, dieses Kapitel aus Mila's Sicht zu schreiben, aber so hab ich es immer gewollt. ♡ Bis zum nächsten Kapitel! ^^

Leukämie-mein Leben danachWhere stories live. Discover now