Kapitel 32

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Mila's Sicht                                                        Leise klopft es an der smaragdfarben gestrichenen Tür mit den güldenen Verzierungen. "Herein", nuschele ich mit geschlossenen Augen, während ich mich aus der Federbettdecke strampel. Wenig später wird die silberne Klinke hinunter gedrückt und Ur-Omas Kopf lugt in mein Zimmer. "Hallo", lächelt sie. "Hey." Ich mache eine begrüßende Handbewegung, ehe ich mich vom Bett erhebe.

Ich habe mein Zimmer tatsächlich ohne zu Zögern gefunden. Es besitzt leuchtend helle Wände;  das einzige Möbelstück ist mein altmodisches Bett mit den weißen Metallstäben, das quietscht, wenn ich mich darauf bewege. Es ist ein Himmelbett und der dunkelblaue Schleier ist mit vielen, glitzernden Punkten versehen, sodass es beim Liegen scheint, als blicke man ins Sternenzelt. Ich kam mir automatisch vor wie daheim, als ob ich nach einer langen Reise wieder meine Wohnung betrete. Endlich zu Hause. Dennoch kann ich mich nicht erinnern, schon einmal hiergewesen zu sein. Es ist komisch. Schlafen konnte ich im übrigen auch nicht. Aber es war toll, einfach mit geschlossenen Augen dazuliegen und sein Leben vor dem inneren Auge Revue passieren zu lassen. Immer und immer wieder.

Nachdem ich Ur-Oma in eine Umarmung gezogen habe, mustert sie mich mit ihren hellen Augen und streicht durch meine Haare. "Du hast nicht geschlafen, stimmt's?" Ich schüttele den Kopf. Gemeinsam treten wir an mein Fenster und schauen hinaus in das bunte Treiben der Wolkenwelt. "Niemand schläft hier. Du lebst ja nicht mehr, also hast du keinen Grund zu schlafen." Ihre Augen beobachten Lydia, die auf einem Hügel sitzt und sich mit den Fingern das schwarze Haar kämmt. Vor ihr sitzt ein kleiner Blondschopf, vielleicht fünf Jahre alt. Von hier aus sieht es so aus, als sängen sie gemeinsam. Vielleicht tun sie das ja auch. Eigentlich müssten Ur-Oma's Worte mich hart treffen, aber insgeheim muss ich es die ganze Zeit gewusst haben, denn ich nicke nur. "Warum gibt es dann Betten?", will ich wissen. Ur-Oma seufzt selig. "Wenn man drin liegt, über einem die Sterne, dann ist es fast so, als würde man schlafen. Jeder braucht seine Ruhe, vetstehst du? Selbst die Toten." Etwas grimmiger fügt sie hinzu: "Die Vergessenen." Mein Kopf fährt umher. Ich mustere sie skeptisch, doch sie betrachtet weiterhin Lydia und ihre Züge bleiben weich. "Die Vergessenen?", wiederhole ich. Sie nickt. "Genau. Die Vergessenen. Tot ist nur der, der vergessen wird." "Hmm", mache ich und sehe an mir herunter. "Mama würde mich niemals vergessen." "Du verstehst das falsch", entgegnet Ur-Oma. "Ich will nichts gegen deine Familie sagen. Es ist andersherum. Je mehr Zeit du in diesem Bett verbringst, desto mehr vergisst du dein Leben. Du vergisst, wen du geliebt hast und du vergisst, wer dich geliebt hat. Du vergisst sie alle." Während eine umschweifenden Handbewegung sieht sie mir endlich in die Augen. "Du vergisst dein ganzes Leben. Erst dann bist du wirklich tot und bereit dazu, wiedergeboren zu werden oder zum Schutzengel zu mutieren. Ist das verständlich?" Ich nicke. "Und sehr traurig." Ur-Oma schüttelt lachend den Kopf. "Nein, mein Schatz, es ist nicht traurig. Du weißt ja nicht mehr, wie du gelebt hast. Und wenn du nichts hast, worüber du traurig sein kannst, wirst du es auch nicht sein." Ich gebe ein verwirrtes Geräusch von mir. "Schau mal", sagt sie sanft. "Ich weiß auch nichts mehr über mein Leben. Ich weiß nicht einmal, ob ich geheiratet habe, oder wen, ob ich Kinder hatte, oder nicht, es ist alles weg. Ich weiß noch nicht einmal, wann und wie ich gestorben bin. Es ist, als wäre ich schon immer hier oben gewesen, aber ich weiß, dass ich schon gelebt habe." Ich zucke zusammen. "Du bist sehr alt verstorben, Ur-Oma, ganz friedlich eingeschlafen, im Altersheim. Da warst du schon über 10 Jahre Witwe. Er hieß Erwin. Ich habe dein Fotoalbum geerbt, es sind tolle Hochzeitsfotos dabei -" "Es macht keinen Sinn, mir das zu erzählen", lächelt Ur-Oma. "Ich erinnere mich nicht. Und irgendwann tust du das auch nicht mehr." Sie berührt mit ihrer Hand meine Wange. "Lass uns rausgehen, Kind."

Lea's Sicht

Es riecht nach Desinfektionsmittel und Blumen, das Sonnenlicht wärt meine Haut. Ich liege unter einer viel zu dicken, schweren Decke, mehrere Schläuche kabeln mich an das Bett und den tropfenden Apparat über mir. Krankenhaus. Ich hätte ausrasten sollen, doch mein Bauch ist voller Glück, ausgepolstert mit einem guten Gefühl, wo auch immer es herkommt. Es tut gut, sich so zu fühlen, so klar, so rein, aber viel lieber würde ich über die dünne Schneeschicht tanzen, übers Eis schlittern und die eisige Winterluft inhalieren. Es ist zu warm hier drin. Ich will die Bettdecke beiseite treten, aber meine Beine sind viel zu schwach. Wenigstens schaffe ich es, den Kopf zu drehen und die Augen zu öffnen. Richtig getippt. Krankenhaus. Auf dem Fensterbrett steht eine Vase mit Tulpen, durch die Gardine scheint die Wintersonne. Auf der anderen Seite ist ein hellblauer Plastikvorhang und ein weißes Nachtschränkchen mit einem Glas Wasser. Mama sitzt auf einem Stuhl, den Kopf an meinem Fußende, und schläft. Ich will nach dem Glas Wasser greifen, aber meine Arme sind viel zu schwer. Dabei ist mein Hals so trocken... "Pfff", mache ich, da es das einzige Geräusch ist, das ich zustande bekomme. "Pfffmmm." Am Fußende regt sich was. Genau drei Sekunden später schnellt Mama's Kopf in die Höhe und die besorgten Falten in ihrem Gesicht verwandeln sich in erleichterte Lachgrübchen. "Lea! Du bist aufgewacht!" Wie geistreich. "Mhhhfff", mache ich, dann fällt mein Kopf zurück auf das dicke Kissen. "Warte, ich hole einen Arzt", ruft sie. Ich weiß, dass sie nichts dafür kann, aber ihre Stimme löst in meinem Kopf ein schrecklich hämmernden Gefühl aus. Ich blicke Mama vernichtend an und will ihr irgendwie vermitteln, mir das Glas Wasser an die Lippen zu halten, doch sie ist schon an die Tür geeilt.

Und deswegen bleibe ich liegen wie ein hilfloses Schaf und frage mich, wie ich hierher geraten bin. Habe ich auch Leukämie und werde morgen sterben? - Ich hoffe nicht. Obwohl... Sterben ist mir im Moment eigentlich ganz recht. Außer Mama habe ich niemanden. Und das Gefühl, zu wissen, dass die einzige Person, der man alles anvertrauen kann, die einen immer verstanden hat, bei der man sich geborgen gefühlt hat, irgendwo hingegangen ist und nie wieder zurückkehrt, fürchterlich erdrückend. Und weg sind sie, die Glücksgefühle. In dem Moment kommt ein mittelalter Mann in weißem Kittek und silbergrauem Haarkranz in mein Zimmer, gefolgt von einer pummeligen, kleinen Frau mit schwarz gefärbten Haaren - was man an dem braunen Ansatz sieht - und pinkem T-Shirt. Ihre weißen Gummischuhe quietschen auf dem Boden und ihre speckigen Fingerchen halten einen Block und Stift. Mama läuft hinter den beiden, ein Dauerlächeln auf den Lippen. Während der Arzt sich auf den Stuhl plumpsen lässt, lehnt sie sich an die Heizung unter der Fensterbank. "Hallo", sagt der Arzt lächelnd. "Ich bin Doktor Flimmerling, das hier ist unsere frisch eingestellte Arzthelferin Sarah Heidenreich. Ich bin sicher, du darfst sie beim Vornamen nennen." "Sicher, sicher", sagt Sarah und nickt komisch zuckend. "Was fehlt dit denn?", fragt der Arzt, während er das Horchding aus seiner Kitteltasche fummelt. Meine beste Freundin. "Pffffhuu", mache ich. "Verstehe." Der Arzt nickt. Dann setzt er sich das Horchding auf, schiebt die Decke und mein Nachthemd zur Seite und presst den Horcher auf meine Brust. Es hätte mir unangenehm sein müssen, doch die Trauer füllt jede Lücke meines Körpers. Da ist kein Platz für Scham. "Herzschläge unkontrolliert und etwas zu schnell", murmelt Doktor Flimmerling nach einer Weile. Dann nickt er Sarah zu. "Aufschreiben!" Und Sarah läuft rot an und zückt den Kugelschreiber. Der Arzt nimmt den Horcher wieder von meiner Brust und sieht mich kopfschüttelnd an. Dann blickt er zu meiner Mutter, der Vorwurf ist ihm ins Gesicht geschrieben. "Sie haben Glück gehabt, Frau Bauer. Ihre Tochter hat zu wenig gegessen, und zu wenig Luft bekommen. Aber wahrscheinlich wird sie noch glimpflich davon kommen." Mama wird leichenblass. "Wieso, was hätte denn passieren können?", haucht sie mit aufgerissenen Augen. "Schlaganfall. Vielleicht sogar ein Herzinfakt. Zu wenig Sauerstoff, Nahrungsmangel, viel zu lange bewusstlos. Wären Sie später gekommen, könnte Ihre Tochter nun im künstlichen Koma liegen." Ich will ihm sagen, dass Mama nicht wissen konnte, dass ich bewusstlos war, weil ich mich eingeschlossen habe, aber ich kann noch immer nicht sprechen. Und Mama steht da und starrt auf ihre Fußspitzen. "Nun sag's ihm doch!", schreie ich ihr innerlich zu. Doch sie regt sich nicht. Da werde ich ganz hysterisch und drehe schweratmend den Kopf, die Tränen steigen mir in die Augen. "Hoppla!", macht Sarah. Doktor Heidenreich zieht eine ernste Miene. "Keine Angst, mein Kind, es ist ja noch mal gut gegangen." Er schenkt mir ein Lächeln, das wohl herzlich sein soll, aber es macht mich nur noch tollwütiger. Schließlich hebt er das Glas an meine Lippen. "Trink", sagt der Arzt und ich öffne dankbar den Mund und trinke in gierigen Schlücken. Als das Glas leer ist, murmelt Doktor Heidenreich etwas von Valium, ehe er mir eine große Spritze in den Unterarm schiebt. Dann pumpt sich mein Bauch wieder mit Glückshormonen auf und im nächsten Moment schlafe ich wieder ein.

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Leukämie-mein Leben danachWhere stories live. Discover now