Das neunte Jahr: Schrei

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Patroclos verwendete viel Zeit und Nerv darauf, Achill von seinem Vorhaben zu überzeugen. Mein Haar war schon wieder um eine Handbreite gewachsen, als mein Gefährte einen weitern Versuch unternahm und eine Ewigkeit nicht mehr von dem Heim des Halbgottes zurückfand. Obwohl ich mir üblich keine Sorgen machte, wenn Patroclos länger im Lager unterwegs war, verzog mich meine Bauchregion aber doch ein wenig, als ich am zweiten Morgen aufeinander ohne ihn neben mir aufwachte.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und strich mein vom Schlaf verknotetes Haar aus der Stirn. Ein Gähnen entfuhr mir, während ich mich im Bette aufhockte. Sogleich griff ich nach der halbvollen Wasserkanne, die neben den Fellen bereitstand. Verschlafen trank ich einige Schlucke der kühlen Flüssigkeit. In unserer Hütte war es bereits wieder so stickig und heiss, dass ich angewidert seufzte.

Die Ruhe, die von draussen in den verdunkelten Raum drang, war Zeichen genug, dass heute wohl keine Aufgabe anstand. Augenblicklich machte ich mich auf einen langweiligen Tag in der brennenden Sonne bereit. Dennoch stand ich nach einem erneuten Gähnen auf und trat an die Kleidertruhe, die ein frisches Hemd für mich bereithielt.

Schnell streifte ich mein dreckiges Gewand ab und goss den Rest des Trinkwassers über meinen Körper. Obwohl meine Haut noch erfrischend nass war, zog ich mir das dunkelblaue Hemd über den Kopf und legte meinen Gurt mit meinem Messer aus der Schule um. Als ich mit meiner Hand über die Verzierung fuhr, packte mich unwillkürlich das Heimweh. Was war wohl aus all den jungen Kriegern geworden? Wie viele von ihnen waren mit mir auf dieser öden Reise gelandet, ohne dass ich es wusste? Wie viele hatten sich einer Familie gewidmet? Wie viele waren überhaupt noch am Leben?

Mit einem Holzkamm fuhr ich mir unsanft durch das wirre Haar und bändigte es zu einem Pferdeschwanz, welchen ich mit einem dünnen Lederbändchen befestigte. Leises Gerede drang nun von draussen zu mir, sodass ich schnell in meine Sandalen schlüpfte.

Gerade als ich auf den Eingang zutrat, wurde der Vorhang aus Holzperlen, den wir erst vor kurzem fertiggestellt hatten, zurückgestreift. Herein trat – endlich – mein hübscher Gefährte. Sein kräftiger Körper und das hübsche, kantige Gesicht raubten mir den Atem. Noch immer hatte ich mich nicht völlig daran gewöhnt, mit solch einem wunderbaren Menschen zusammenleben zu dürfen. Erleichterung durchströmte meinen ganzen Körper, als ich mich in seine Arme warf.

„Was hat denn so lange gebraucht", sagte ich leise und drückte mich an seine starke, warme Brust.

„So lange war das doch gar nicht", antwortete mein Gefährte lächelnd und hob mich leicht an.

Ich erwiderte nichts und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Schulter. Langsam liess er mich hinunter, doch ich blieb auf den Zehenspitzen stehen, um ihm wenigstens annähernd auf Augenhöhe zu sein. Noch immer bückte sich Patroclos aber hinunter, als er mich sanft küsste. Ich erwiderte den Kuss, der ein Kribbeln in meinem Nacken verursachte. Ich spürte Patroclos' warme Hand auf meiner Wange, welche darunter entflammte.

Selbst nachdem ich ein Drittel meines Lebens mit ihm an meiner Seite verbracht hatte, vergrösserte sich meine Zuneigung ihm gegenüber beinahe täglich. Wohl gerade der Krieg, der vor unserer Hütte tobte, liess mich seine Anwesenheit immer wieder so sehr wertschätzen. Patroclos war es, der mich heil durch diese Zeit gebracht hatte, auch wenn er mich nicht täglich vor dem Feind hatte verteidigen müssen.

„Und?", fragte ich ihn und legte meine Stirn an seine Wange. Er küsste sie sanft und nahm mich in den Arm.

„Was und?", erwiderte mein Gefährte ruhig.

„Bei den Göttern, wie ist es bei Achill gelaufen? Hattest du endlich Erfolg?"

„Gewiss, das meinst du."

Die letzte KriegerinWhere stories live. Discover now