Aufbruch

21.5K 629 54
                                    

Was musste ich alles mitnehmen? Ein Ersatzkleid, ein Nachthemd, zwei Kerzen und getrocknete Früchte. Dann noch meine Rüstung, mein Schwert und das Holzpferd, welches mir Vater einmal geschnitzt hatte. Für all dieses Gepäck war meine Satteltasche kaum gross genug. Ich lief die schmale Holztreppe hinab in die Küche, wo mir meine Mutter einen Wasserbeutel und einen Laib Brot in die Hand drückte. Dann trat ich, mit ihr an meiner Seite, in die warme Morgenluft hinaus und wusste sofort: Es war das letzte Mal, dass ich dieses Häuschen verliess. Ich würde aufbrechen, in die weite Welt laufen, und dabei jeden Tag ein bisschen mehr Erfahrung sammeln. Ja, darauf freute ich mich schon. Nun war es an der Zeit, mich zu verabschieden und all meinen Lieben Lebewohl zu sagen. Als Erstes trat ich auf Mutter zu, die mich so viele Male aufgefangen hatte, wenn ich nicht mehr gekonnt hatte. Die, die mich mit Liebe und Geduld aufzuziehen wusste. Die, die mir jeden Morgen eine warme Milch zubereitet hatte.

„Auf Wiedersehen, Mutter!", verabschiedete ich mich. Ich sah, wie ihr die Tränen in den Augen standen. Und plötzlich rollte auch schon eine über ihre sonnengebräunte, zarte Wange hinab. Ich hingegen, ich hatte keine Träne in meinen Augen. Das hatte ich nie. Ich glaube, ich hatte, seit ich klein war, nie geweint. Vielmehr war ich immer ein Energiebündel, konnte stundenlang schreien oder, wenn mich einmal etwas nerven oder trauern liess, einfach sieben Mal quer über unser Anwesen rennen. Aber es war auch nichts anderes als logisch, dass ich nicht weinte, denn schon in ein paar Augenblicken würde ich das machen, von dem ich schon so lange träumte.

„Auf Wiedersehen! Gib ja immer acht auf dich! Und sei mir immer artig, ja?" Ich versprach ihr, mich nie absichtlich in Gefahr zu begeben, und dann liessen wir uns los. Einen kurzen Moment noch betrachtete ich sie. Mit ihrem schwarzen Zopf und ihren dunklen Augen war sie mir wohl nicht sehr ähnlich, aber trotzdem galt sie für mich immer als wunderschön. Sie war nicht wie andere Frauen, dick und runzlig, sondern zart und natürlich.

Vater konnte ich nirgends sehen, und so nahm ich zuerst meine kleine Schwester auf den Arm. Sie war etliches jünger als ich, trotzdem konnten wir uns immer vertrauen und erlebten zusammen so einiges.

„Wohin führt dich denn dein nächster Besuch?", fragte sie mich. Ich hatte es ihr eigentlich schon mindestens ein Dutzend Mal erklärt, aber es ging anscheinend einfach nicht in ihr kleines Köpfchen hinein, dass ich wohl für immer wegbleiben würde.

„Maria, ich gehe nicht zu Besuch. Du weisst doch, ich werde auf eine Schule gehen, die ist leider einige Meilen von hier entfernt. Und du weisst auch, dass, wenn du gross bist, wie ich heute, du auch zu mir kommen kannst. Ich...", und da fing wieder dieses herzzerreissende Heulen an. Immer, wenn ich davon erzählte, dass ich wohl für längere Zeiten wegbleiben würde, hatte sie gleich einen Tränenschwall, der aus ihren Augen heraus drang. Ich drückte sie noch ein bisschen fester und sie schlang ihre Arme um meinen Hals. Dann legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und nach einiger Zeit nahm mir Mutter das zappelnde Kind aus meinen Armen.

„Maria, hör mir zu!", fuhr ich, in dem ich mich zu ihr niederkniete, fort: „Du kannst jetzt meine Liege haben!" Das reichte natürlich, um sie wieder strahlen zu sehen. Schon immer, wenn ich auch nur für kürzere Zeit weg gewesen war, wollte sie gleich meine Liege übernehmen, die ich von nun an natürlich schmerzlich vermissen werde. Die Felle auf dem knarrenden Holz machten alles so kuschelig warm, und die Grösse meines Bettes will ich gar nicht erwähnen. Noch ein letztes Mal umarmte ich auch Maria und dann suchte ich noch mit einem letzten, umschweifenden Blick meinen Vater. Aber ich konnte ihn nirgends sehen. Hatte ich ihn denn so enttäuscht, dass er mich nicht einmal mehr verabschieden wollte? Oder musste er nur gerade ein weiteres Schwert bis heute Abend fertig herstellen? In seiner Schmiede hatte er ja schon immer alle Hände voll zu tun gehabt, und so blieb oft wenig Zeit, in der er etwas für seine Familie hätte tun können.

„Er hat wahrscheinlich einen grösseren Auftrag erhalten, den er in kurzer Zeit erfüllen muss", versuchte mich meine Mutter zu trösten. Das hätte ich nicht erwartet, dass Vater mich an meinem letzten Tag hier einfach würde stehen lassen. Ich wusste, dass aus mir nicht eine Frau nach seinen Vorstellungen geworden war, auch dass ihm mein Abschied wohl zusetzte, wusste ich. Er hatte es nie verstehen können, wieso ich so geworden bin, wie ich es heute war. Allerdings wäre das einfach zu erklären. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, so zu werden wie meine Mutter oder Grossmutter. Nicht, dass an ihnen etwas nicht gut gewesen wäre, nein, vielmehr konnte ich nur die Vorstellung nicht ertragen, den ganzen Tag nichts anderes zu machen, als bei seinem Vermählten in der Küche zu stehen oder die Kinder zu erziehen. Wie musste doch so ein Leben langweilig sein. Ich wollte viel lieber die Welt entdecken, mit ihren schönen und fürchterlichen Seiten. Ich wollte meinem Herrscher dienen und Feinde vertreiben. Ich wollte helfen, unser geliebtes Reich zu vergrössern. All das wollte ich. Nichts anderes. Und das wusste Vater ebenso gut wie ich.

Ich nahm also meine Satteltaschen vom Haken an der Wand und warf sie mir über die Schulter. Um diese kleine Last, auch wenn sie für ein anderes Mädchen riesig gewesen wäre, ein paar Meilen weit zu tragen, waren meine Muskeln wohl gross genug. Ich winkte noch einmal den zwei wichtigsten Frauen in meinem Leben zu, und dann war ich schon im Begriff umzudrehen, als plötzlich Vater aus der Scheune schritt. Er führte einen grossen Rappen mit sich, den er schon aufgezäumt hatte. Ich drehte mich noch einmal um, lief auf Vater zu und blieb zehn Fuss vor ihm stehen. Er übergab mir den Rappen und umarmte mich.

„Elizabeth. Du weisst, ich bin nicht sehr erfreut darüber, was du gedenkst mit deiner Zukunft anzufangen. Ich hatte für dich immer ein Leben an der Seite eines kräftigen Mannes, der dich zu beschützen weiss, vorgesehen. Da es allerdings nicht so scheint, als würdest du deine Meinung im letzten Augenblick ändern, so will ich dich wenigstens bei dem unterstützen, für das du dich entschieden hast. Nimm Christus mit. Er wird dich sicher und viel schneller über die weite Strecke führen, die du bestreiten wirst. Mit seinen kräftigen Beinen und seinen guten Augen wird er dir immer ein treuer Begleiter und guter Beschützer sein."

„Danke Vater, ich werde deine Grosszügigkeit schätzen und dich nicht enttäuschen." Ich konnte es wohl noch nicht richtig fassen, dass Vater mich trotz allem zu unterstützen gedachte, obwohl er ja schon immer so gewesen war. Schon früher, als ich noch viel kleiner war, hatte er mir auf Betteln und Bitten ein Holzschwert geschnitzt und immer in seinen Pausen fleissig mit mir das Kämpfen geübt. Fast täglich waren wir damals über den Berg zum Fluss gelaufen, dort, wo wir gemeinsam das Schwimmen übten. Oder er hatte mir einfach eine Heldengeschichte nach der anderen erzählt. Wir waren immer zusammen, hatten einiges erlebt. Auch Negatives. Trotzdem hatte mich Vater nie geschlagen, wie es in anderen Familien oft vorkam. Auch Mutter oder Maria hatte er stets geachtet und uns immer bei allem geholfen. Trotzdem bedeutete es mir unheimlich viel, dass er mich auch bei diesem letzten wichtigen Schritt in meinem Leben voll unterstützte. Auch wenn ich es innerlich gehofft hatte, hätte ich nie geglaubt, dass Vater wirklich alles guthiess, was ich für mich entschied. Oder vielleicht nicht gerade guthiess, aber doch akzeptierte und mir bei der Verwirklichung half.

Ich schämte mich dafür, auch nur einen Augenblick daran gezweifelt zu haben, dass er mich im Stich lassen würde und lieber seinen Auftrag erledigen könnte. Aber nicht nur deshalb wurden meine Wangen nun ganz rot und warm, sondern auch aus Trauer, dass ich diesen Menschen, der mir immer bei allem geholfen und mir stets einen Ratschlag gehabt hatte, nun im Stich liess und alle seine Wünsche für seine erste Tochter zunichte machte. Noch einmal umarmte ich ihn, und danach nahm Vater noch kurz meinen Kopf zwischen seine grossen Hände und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Nicht gewohnt an solche Zärtlichkeiten, verdrängte eine plötzliche Wärme alle anderen Gefühle.

Und ich wusste, egal, was auch kommen mochte und egal, was war, es gab hier immer drei Menschen, auf die ich einhundertprozentig zählen konnte und zu denen ich, was ich auch getan hätte, immer zurückkehren könnte. Mit diesem Wissen und mit der anhaltenden Wärme in meiner Brust schwang ich zuerst meine Satteltasche und dann mich selber auf Christus. Ich spürte, wie er atmete, ich hörte, wie er langsam vorwärts in Richtung Tor schritt, und dann wurde mir schmerzlich klar, dass ich mein geliebtes Heim mit der herzlichsten Familie ganz Griechenlands nun für immer verlassen würde.

Die letzte KriegerinWhere stories live. Discover now