Kapitel 62

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Marco

Lia sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und sieht fern. Als ich sie da so sitzen sehe, wird mir irgendwie bewusst, dass sie nie etwas anderes tut als hier zu sein und sich um den Haushalt und Ela zu kümmern. Wieso geht sie nicht einfach mal raus und genießt ihr junges Leben? Gerade heute, wo doch Samstag ist. Ihre Freunde sind doch sicher alle unterwegs. Wieso geht sie nicht auch mal feiern oder einfach mit ihren Freunden was trinken? Aber wie ich so darüber nachdenke... sie hat nie irgendwelche Freunde erwähnt. Sie wird doch wohl welche haben, oder? Ich meine, jeder hat doch hier und da mal einen guten Bekannten oder eine beste Freundin, beziehungsweise besten Freund. Oder liege ich da falsch? Gut, ich bin auch nicht viel unterwegs. Aber ich treffe unter der Woche meine Mannschaftskollegen, mit denen ich auch sehr gut befreundet bin. Lia ist den ganzen Tag ausschließlich hier oder bei Ela im Krankenhaus. Nun kenne ich sie schon gut ein halbes Jahr und doch weiß ich irgendwie nichts über sie. Was ist ihr absolutes Lieblingsessen? Ihre Lieblingsfarbe? Welche Musik hört sie am liebsten? Hat sie besondere Hobbys? Ich habe nie mitbekommen, dass sie mit irgendwem schreibt oder dass sie sich mit etwas sehr interessiert beschäftigt.
Seufzend sehe ich Lia an, die mich zu bemerken scheint, da sie den Kopf dreht und mich ansieht. "Alles klar?", fragt sie mich. Ich nicke und setze mich zu ihr. "Wieso gehst du nicht mal raus und triffst Freunde?" Sie schmunzelt leicht und sieht mich an. "Weil ich keine habe? Von dir mal abgesehen.", "Im Ernst? Aber wieso nicht?" Sie seufzt und stellt den Fernseher aus. "Naja, zu den Leuten aus meiner damaligen Klasse habe ich den Kontakt abgebrochen, als ich mit Quinn weg bin. Naja, und seitdem habe ich nicht wirklich neue Kontakte geknüpft. Ich war zwar viel unterwegs, doch ich habe nicht wirklich angenehme Leute getroffen, wenn du verstehst, was ich meine." Ich nicke leicht. Es muss schlimm für eine Frau sein gegen ihren Willen mit fremden Männern schlafen zu müssen. "Du... du musst die Frage nicht beantworten, aber... Ähm... mit wie vielen Männern hast du denn schon...?" Lia seufzt und knetet nervös ihre Hände, auf welchen ihr Blick liegt. "Zu viele. Ich habe aufgehört zu zählen. Das war keine sehr schöne Zeit, weißt du? Ich habe immer auf drei Kondome bestanden und alle mussten sich vorher gründlich duschen. Ich hatte kein Geld für die Pille, abgesehen davon habe ich durch die Drogen ständig spucken müssen. Die Pille hätte mich nicht vor ungewollten Schwangerschaften geschützt. Deswegen die drei Gummis. Abgesehen davon hatte ich extreme Angst davor, dass irgendwer mir irgendeine Krankheit anhängt. Damals im Krankenhaus haben die sämtliche Tests mit mir gemacht. Vor allem wegen Aids und so. Aber zum Glück wurde ich verschont. Das alles hätte noch viel schlimmer für mich enden können, wenn du mich fragst." Sie lächelt mich an, doch dieses Lächeln erreicht ihre Augen nicht. "Komm her.", sage ich leise und breite die Arme aus. Sofort verzerrt sich ihr Gesicht und sie beginnt zu weinen, während sie näher zu mir kommt und sich an mich kuschelt. "Ich habe Albträume. Fast jede Nacht. Ich wurde schon so oft gegen meinen Willen berührt. Keiner hat aufgehört, als ich sagte, dass es reicht und keiner hat Grenzen akzeptiert. Ich wurde gedemütigt, geschlagen und misshandelt! Nicht nur von Quinn, auch von vielen Freiern. Mir wird jedes mal schlecht, wenn ich daran denke, wie mich diese ekelhaften, schmierigen Kerle angefasst und sich an mir aufgegeilt haben. Quinn war das alles egal! Er hat mich angeschrien, dass ich mich nicht so anstellen soll und hat mich von Tag zu Tag schlechter behandelt. Ich war so blind vor Verliebtheit, dass ich dachte, dass sein Verhalten mir gegenüber normal ist. Aber das war es nicht, Marco. Er ist ein scheiß Arschloch, dem man seinen scheiß Schwanz abschneiden und seinem eigenen Hund zum Fraß vorwerfen sollte!" Unter anderen Umständen hätten mich solche Worte geschockt, doch ich kann nachvollziehen, dass sie so denkt. Ich würde nicht anders denken, wenn ich sie wäre. "Wieso ekelst du dich nicht mich anzufassen? Wieso widert es dich nicht an?", "Wieso sollte es das?", frage ich irritiert und wische ihr die Tränen weg, die ihr in Strömen über die Wangen laufen. "Weil ich so oft beschmutzt wurde. Weil ich von so vielen Männern berührt wurde. Ich bin eine verdammte Hure!" Ich schüttle den Kopf. "Nein, Lia, das bist du nicht. Du bist einfach nur ein armes Mädchen, das in eine für sie völlig falsche Szene geraten ist. Du bist meine Lia und ich nehme dich so, wie ich dich kriegen kann. Das alles geschah gegen deinen Willen. Du hattest keine Wahl. Das ändert die ganze Sache, weißt du? Du warst einfach nur gebrochen und nicht stark genug, um dich zu wehren. Aber heute ist das anders. Heute bist du stark genug, um alles zu meistern." Sie schnieft und wischt sich über die Nase, schmiegt sich dann an mich und macht die Augen zu. "Ich bin nicht stark. Das ist doch alles nur eine Art äußere Hülle.", "Das stimmt nicht, Lia. Du bist viel stärker, als du selbst denkst. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass du perfekt bist, so wie du jetzt bist." Sie sieht zu mir hoch. "Wirklich?", schnieft sie mir verheulten, aufgequollenenen Augen. "Ja, wirklich. Und jetzt weine nicht mehr. Du bist noch viel schöner, wenn du lächelst.", "Schöner?" Ich nicke und streiche ihr eine Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem sowieso schon wüsten Dutt gelöst hat. "Fühlst du so wie ich?", "Wie fühlst du denn?", frage ich zurück. "Ich fühle mich sehr zu dir hingezogen. Naja, und ich fühle mich sehr sicher und geborgen bei dir. Und dann ist da noch dieses Kribbeln in meinem ganzen Körper, welches du ständig auslöst. Diese Empfindungen sind alle so stark, dass ich ohne dich nicht mehr sein will, verstehst du?" Ich nicke leicht und beuge mich zu ihr hinunter, um sie sanft zu küssen, was sie erwidert. "Mir geht es nicht anders. Und das habe ich jetzt endlich kapiert. Wie konnte ich nur so dumm sein und das alles so sehr verdrängen? Verzeih mir, dass ich dich von mir gestoßen habe. Ich war überfordert und wusste mir nicht anders zu helfen. Ich war einfach nicht mehr ich selbst und das tut mir leid. Verzeih mir, Lia.", "Ich verzeihe dir.", haucht sie nahe an meinen Lippen, welche sie anschließend vorsichtig küsst.

Take My HandWhere stories live. Discover now