Kapitel 97

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Lia

"Können wir reden?", "Ach, jetzt möchtest du darüber reden?", schnaubt Marco und rasiert sich weiterhin das Gesicht. Sein Blick ist stur auf den Spiegel gerichtet. "Es tut mir leid, okay? Aber versetz dich doch auch mal in meine Lage. Ich habe Angst, dass ich das Baby verliere, verstehst du?", "Super, und was würdest du tun, wenn es so kommen würde? Dich dann komplett zurückziehen und ganz allein für dich weinen? Ich sage dir wie das ablaufen würde. Du würdest kaum noch mit mir reden, würdest jede erdenkliche Art von Körperkontakt vermeiden, würdest dich selbst kaputt machen und ich müsste dabei zusehen und wüsste dann nicht einmal einen Grund. Findest du das in Ordnung? Denkst du damit könnte ich leben? Nein, Lia, das kann ich nicht! Wir haben jetzt schon so viel durchgestanden. Wieso erzählst du mir so was einfach nicht? Denkst du, du könntest es einfach verarbeiten, wenn du tatsächlich eine Fehlgeburt hättest? Vergiss es, das kannst du nämlich nicht. Im Gegenteil, du würdest daran richtig zerbrechen und dann könnte ich dir nicht einmal helfen, weil du mir nichts gesagt hast!" Tränen sammeln sich in meinen Augen, als mir klar wird, wie recht er doch hat. Ich könnte nicht einfach heimlich trauern. "Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Vielleicht hatte ich einfach Angst, damit tatsächlich leben zu müssen. Vielleicht habe ich einfach noch zum Teil verdrängt, dass ich wirklich schwanger bin. Aus reinem Selbstschutz. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich auch jetzt noch Angst habe, wo du es weißt. Mir war die ganze Zeit bewusst, dass du mich nicht hassen oder vor die Tür setzen würdest, nur weil ich schwanger bin. Es ist einfach alles so viel, weißt du? Ich bin davon ausgegangen, dass ich nie Kinder haben würde. Jedenfalls keine leiblichen. Und jetzt bin ich doch schwanger und habe einfach nur eine scheiß Angst, dass mein Kind wegen meines kraftlosen Körpers niemals das Licht der Welt erblicken darf." Weinend lasse ich mich auf den Toilettendeckel nieder. "Du hättest sofort mit mir reden sollen. Ich habe schon gedacht, dass du keinen Bock mehr auf mich hast, weil du mich jedes mal wegschiebst, wenn ich dir näher komme." Ich schüttle den Kopf. "Durch meinen viel zu dünnen Körper sieht man nur einfach schon zu viel.", murmle ich und lasse traurig die Schultern hängen. Marco seufzt und wischt sich den restlichen Rasierschaum vom Gesicht, als er fertig ist mit Rasieren und trocknet sich ab. "Ich hoffe, dass du daraus gelernt hast. Solche wichtigen Sachen musst du mir erzählen, Lia. Das hatten wir doch schon oft genug." Ich nicke wissend und er geht vor mir in die Hocke. "Lass uns einfach in Ruhe ins Bett gehen, okay? Wir machen das schon irgendwie.", sagt er leise und sein Blick gleitet runter auf meinen Bauch, der von einem weiten Pulli bedeckt wird. Ich nicke und Marco steht auf. "Ich mache mich noch schnell fertig für's Bett, dann komme ich auch." Er sagt nichts weiter, nickt nur und geht nach nebenan ins Schlafzimmer, während ich mir die Zähne putze. Meinen Pullover tausche ich gegen ein weites T-shirt von Marco, dann gehe auch ich ins Schlafzimmer und lege mich hin. "Jetzt komm schon her.", schmunzelt mein Freund und zieht mich zu sich. Seinen Arm hat er um meine Taille geschlungen, seinen Kopf hat er auf seiner Hand abgestützt. Langsam gleitet seine andere Hand unter das T-shirt zu meinem Bauch und streicht drüber. "Du hast recht, man merkt es etwas." Ich nicke leicht. Marco sieht von meinem Bauch hoch in meine Augen, ehe er sich zu mir nach unten beugt und mich küsst. "Ist alles wieder gut zwischen uns?", frage ich unsicher und er nickt, weshalb ich wieder lächeln kann. "Und du musst mir jetzt nochmal in Ruhe erklären, was das mit dem Risiko war." Ich atme tief durch und sehe hoch an die Decke. "Für die meisten Frauen gilt ja, dass in den ersten drei Monaten ein etwas erhöhtes Risiko auf eine Fehlgeburt besteht. Bei mir ist dieses Risiko aber höher, weil durch das noch leichte Untergewicht und den vielen Stress von den letzten Monaten mein Körper ziemlich kraftlos ist, also eigentlich zu schwach für eine Schwangerschaft. Deshalb kann es sein, dass ich das Baby verliere, wenn ich mehr zunehme und weiterhin zu viel Stress habe. Dazu kommt noch, dass die Ärztin nicht genau sagen kann, was meine ehemalige Sucht mit dem Baby macht. Es kann sogar sein, dass es vielleicht eine Behinderung hat. Das kann man aber noch nicht sagen. Ich war heute Mittag beim Arzt, da hat sie zu mir gesagt, dass bisher alles normal aussieht. Ich muss aber regelmäßig zur Kontrolle." Marco schiebt mein Shirt hoch und streicht mit seinen Fingern über meinen Bauch. "Und was ist, wenn es wirklich eine Behinderung hat?", "Dann bekommen ich die Möglichkeit auch in späteren Monaten das Baby noch abzutreiben. Aber ich weiß nicht, ob ich das könnte.", "Wir machen das schon irgendwie. Aber wie konnte das überhaupt passieren? Ich meine, du nimmst doch die Pille.", "Ja, aber ich nehme sie morgens nach dem Aufstehen und dann habe ich mich ja noch ab und zu morgens übergeben müssen, als ich gefrühstückt habe." Marco verzieht das Gesicht. "Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Aber jetzt wo du es sagst...", "Geht mir genauso.", seufze ich, doch dann fällt mir etwas anderes ein. "Und was denkst du jetzt? Immerhin hast du ja gesagt, dass du keine Kinder mehr willst.", "Klar habe ich das gesagt. Aber ich liebe dich und habe dir auch gesagt, dass ich für alles offen bin, wenn Ela alles überstanden hat. Zwar habe ich damit nicht unbedingt ein Baby gemeint und Ela ist auch noch nicht komplett über'n Berg, aber jetzt ist es eben so und jetzt da wir alles erklärt haben, bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, als mich zu freuen, oder?" Ich nicke lächelnd. "Aber ich will einen Jungen, okay? Noch mehr Weiber in diesem Haus halte ich beim besten Willen nicht aus." Kichernd sehe ich ihn an und er küsst mich liebevoll. "Ich liebe dich.", "Und ich dich.", erwidere ich lächelnd. Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen, als mir bewusst wird, dass nun nicht mehr so eine große Last auf meinen Schultern liegt.

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