Auszeit

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Ich renne die Treppe hoch in mein Zimmer. Wieder mal schellt mein Handy. Ich sehe nur kurz auf das Display. Wieder ein Anruf von Manu. Mittlerweile der 10. Dazu zeigte mir das Handy auch noch mehrere Whatsapp Nachrichten von ihm an. Bitte melde dich. Geh doch bitte an dein Handy. Ich kann dir alles erklären. Bitte Jenny.  Ich blockiere seine Nummer komplett. Ich will nie wieder etwas von ihm hören oder sehen. Immer wieder ärgere ich mich über meine Blödheit. Es hätte mit doch klar sein müssen, dass es ihm nur darum ging. Seine Reaktion auf mein Geständnis auf der Aussichtsplattform und seine folgenden Annäherungsversuche hätten mir doch eine Warnung sein müssen. Aber ich war einfach zu verliebt in ihn. Ich hatte gedacht, er wäre anders.

Ich schnappe mir meinen Koffer und werfe einige Sachen hinein. Wahrscheinlich durch mein Gerumpel angelockt, klopft es an meine Zimmertüre. Als ich nicht antworte, wird die Tür geöffnet und Sonjas bunt gefärbter Kopf kommt zum Vorschein. Ein wenig motzig sagt sie „Hey, geht es auch etwas leiser? Ich muss noch was schlafen..." Ich drehe mich herum und fauche sie an „Lass. Mich. In. Ruhe. Gerade du verlangst Rücksicht? Du? Die jede Nacht lärmend durch das Haus poltert? Dein Ernst? Verdammt, ich bin es satt. Ich hau ab." Sie bekommt alle meine Wut auf Manu mit einem Rutsch ab. Und verdattert stottert sie jetzt „Jenn? Alles gut bei dir? Was ist denn los? Wo willst du überhaupt hin?" Mit meinem Koffer in der Hand zwänge ich mich an ihr vorbei. Ich sage nur monoton „Ich fahre nach Hause."

Ich sitze im Zug und starre aus dem Fenster. Zum Glück bin ich allein im Abteil. Immer wieder steigen Tränen in meine Augen. Nie im Leben hatte ich mich so verraten gefühlt, wie von Manu. Immer wieder taucht sein Gesicht mit seinen unfassbar schönen grünen Augen in meinen Gedanken auf. Und jedes Mal zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen und immer mehr Tränen laufen stumm über meine Wangen.

Vollkommen verheult erreiche ich die kleine Bahnstation meines Heimatortes. Ehe ich mich umsehen kann, wirbeln auch schon zwei große Schäferhunde um mich herum und springen an mir hoch. Aki und Tizi. Ich beuge mich zu ihnen hinunter und genieße die stürmische Begrüßung. Meine Mom kommt auf uns zu und sagt fröhlich „Hallo meine Große. Schön, dass du da bist." Sie fragt nicht, warum ich hier so unerwartet auftauche und wieso ich wie ein verheultes Bündel Elend aussehe. Sie nimmt mich einfach in den Arm und sagt mitfühlend „Das wird alles wieder." Und wir gehen zusammen nach Hause.

Die Tage zuhause vergehen viel zu schnell. Ich mache lange Spaziergänge mit meinen Hunden und zuhause wartet immer leckeres Essen von Mama auf mich. Ich verdränge so gut wie jeden Gedanken an San Myshuno, meine Arbeit und vor allem an Manu. Aber hin und wieder überkommt mich mein Liebeskummer und ich schleiche mich in das Zimmer meines Bruders, wenn er in der Schule ist und schaue mir Videos von GLP an. Seine Stimme beschert mir nach wie vor eine Gänsehaut. Vor allem in seinen letzten Videos hatte er eigenartig traurig geklungen, auch wenn er es mit witzigen Bemerkungen und dummen Sprüchen versucht zu überspielen. Geschieht ihm recht, auch wenn ich daran zweifle, dass er wegen mir niedergeschlagen ist.

Am Abend vor meiner Rückkehr nach San Myshuno kommt meine Mom in mein Zimmer. Sie setzt sich an mein Bett und streicht mir über meine Wange, wie sie es schon immer getan hat um mich zu trösten und aufzumuntern. Mir kommen beinahe wieder die Tränen, diesmal aber weil ich gar nicht von zuhause weg möchte. Ich will hier bleiben, soweit weg von meinen Problemen. Hier zählen sie nicht. Hier ist meine heile Welt. Mom nimmt meine Hand und sagt beruhigend „Schatz, du wirst damit fertig. Ich weiß das. Egal, was auch passiert, du bist stärker als alles." Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und löscht mein Licht. Leise flüstere ich noch „Danke Mom." und schlafe schnell ein.

Erneut ist die Zeit des Abschiedes da. Diesmal bin ich nicht aufgeregt, aber gern gehe ich trotzdem nicht. Meine Mom und mein Bruder haben mich zum Bahnhof gebracht und so lange gewunken, bis ich sie in der Ferne nicht mehr ausmachen konnte. Okay, ich bin stark. Ich schaffe das. Egal, was kommt. Ich werde damit fertig. Mein Mantra baut mich auf und so schaue ich lächelnd aus dem Fenster. Die Tür zu meinem Abteil wird aufgeschoben und ein junger Mann kommt herein. Freundlich fragt er „Ist hier noch Platz?" Ich sehe zu ihm hoch. Hallo,blind? Siehst du hier noch jemanden sitzen? Aber ich nicke nur freundlich und schaue wieder den vorbeiziehenden Bäumen zu. Nach einer Weile räuspert sich der Fremde und sagt schüchtern „Mein Name ist Iwan. Es ist meine erste längere Zugreise." Ich rolle innerlich mit den Augen. Ich habe keine Lust auf Smalltalk und erwidere kurz angebunden „Meine nicht." Ich erhasche einen flüchtigen Blick auf ihn. Er sieht nicht schlecht aus. Das ist eigentlich stark untertrieben. Seine dunkelbraunen Haare stehen in einem seltsamen Kontrast zu seiner eher Porzellan hellen Haut. Wie Manu. Und wieder spüre ich wie mein Herz sich schmerzhaft zusammen zieht. Ich muss mir verbieten an ihn zu denken. Es tut einfach immer noch zu sehr weh. Der junge Mann sieht mich jetzt mit eisblauen Augen fragend an „Ist dir nicht gut? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." Ich schüttele nur meinen Kopf und starre wieder stur aus dem Fenster. Ich will mich nicht weiter mit ihm unterhalten. Er erinnert mich von seiner Art her zu sehr an Manu. Und das brauche ich grade gar nicht.

Gleich kommen wir an den langen Tunnel. Dann ist es nicht mehr so weit bis San Myshuno. Und schon rauscht der Zug in die lange dunkle Röhre. Für einen Moment wird es dunkel, bis sich das mickrige Notlicht einschaltet. Eine rasche Bewegung meines Gegenüber reißt mich aus meinen Gedanken. Blitzschnell ist er neben mir und ehe ich mich gegen ihn zur Wehr setzen kann, spüre ich einen stechenden Schmerz an meinem Hals. Wie glühende Nadeln. Ich will schreien, aber mir fehlt die Kraft, immer schwächer... bis eine tiefe Dunkelheit mich umfängt...

Eine andere Welt          ~ GLP | Freedomsquad | FF ~ YoutubesimsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt