Kapitel 2

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Am nächsten Morgen stand ich früh auf, brachte Spring zur Schule, blieb selber kurz dort und ging dann pünktlich gegen zehn Uhr in die Stadt, um meinen Stand zu öffnen. Meine auf Papier geschriebenen Texte legte ich sorgfältig auf den kleinen Holztisch und legte Steine auf die Ecken, damit sie nicht wegwehten. Schließlich setzte ich mich auf den nicht gerade stabilen Plastikstuhl, um vielleicht noch ein weiteres Gedicht zu schreiben, während ich auf Kunden wartete.

Ich nahm mir einen Stift und führte ihn langsam übers Papier.

Vielleicht bleibst du, vielleicht nicht,

vielleicht gibt es Schicksal, vielleicht gibt es Glück,

vielleicht werde ich irgendwann genau das sein,

vielleicht wird alles Glück sein mein.

Und genau daran glaubte ich. Und ich würde diese Zeilen nicht verkaufen, sie waren sowieso zu kurz. Ich würde sie behalten, und irgendwann, wenn ich alt bin, würde ich sie mir vielleicht in einem Bilderrahmen an die Wand hängen.

„Guten Morgen, Cayenne." Elizabeth stand vor mir, eine ältere Frau, vielleicht um die sechzig. Sie kam oft hierher. Vielleicht kaufte sie meine Zeilen, um sich von dem Tod ihres Ehemannes abzulenken. Aber sie konnte mir nicht Leid tun. Nein, sie tat mir wirklich nicht Leid. Wenn ich Mitleid zeigen würde, wäre es geheuchelt.

„Hallo, Elizabeth. Was möchtest du kaufen?" Sie hatte mir vor einiger Zeit das Du angeboten. Meine Stimme klang kalt, schneidend, ich konnte nichts dafür. Aber sie schaute mich nur sanft mit ihren braunen Augen an, und ich fragte mich wieso. Carter tat es ja auch immer. War es vielleicht Mitleid? Sah ich so armselig aus?

Vielleicht hofften sie auch alle, mein eingefrorenes Herz auftauen zu können.

Die ältere Witwe schaute sich kurz um und deutete dann auf ein Gedicht, welches um verlorene Liebe ging. Wie passend.

„Nimm es dir ruhig.", meinte ich nur und Elizabeth gab mir wortlos das Geld, dann nahm sie sich das Blatt Papier. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die viel redeten, was mir nur recht war.

„Tschüß, Cayenne." Und dann war sie weg.



Am Abend war es endlich so weit.

Carter kam wirklich um achtzehn Uhr und Spring freute sich so dermaßen, dass sie ihn gleich tausend Mal umarmte. Man konnte es ihr kaum verübeln: Immerhin sah sie ihn eigentlich nie, da sie immer früh ins Bett musste und dann später aufstand.

Einer der weiteren Gründe, warum unser Bruder sich mal öfter frei nehmen sollte.

Jedenfalls machten wir uns auf den Weg, und ich war erstaunt, wie wenig in der Schule los war. Und plötzlich wurde ich nervös, aber verdammt!, ich wurde nie nervös!

„Ist alles okay, Yen?" Meine 13-Jährige Schwester schaute mich besorgt an, und benutze den Spitznamen für mich, den sie sich ausgedacht hatte. Darin war sie Champion: Sie konnte aus den komischsten Namen die komischsten Spitznamen ziehen.

Ich nickte nur kurz, und als ich wahr nahm, dass auch Carter, welcher Spring an der Hand genommen hatte, mich mit dem gleichen Blick ansah, verdrehte ich kurz die Augen. „Alles Gut!", meinte ich nur genervt und wand mich dann um, damit ich zu der ziemlich kurzen Schlange gehen konnte. Ich war die einzige, die kein Kleid trug, die einzige die kein Make-Up trug, die einzige, die sich nicht extra hübsch gemacht hatte, nur die Haare hatte ich mir so lange gekämmt bis sie glänzten.

Auserwählt.Where stories live. Discover now