Kapitel 49 ~ too much history

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- Hinata -

Darauf bedacht, nicht allzu schnell anzukommen, laufe ich langsam in Richtung des düsteren Gebäudes. Rechts von mir geht Ning und trotz des uns bevorstehenden Grauens sieht sie kein bisschen panisch aus.

Mir allerdings läuft es eiskalt den Rücken hinunter und ich bekomme eine Gänsehaut, als wir um die Ecke eines Häuserblocks biegen und vor uns ein hoher Zaun in den Himmel ragt. Jede einzelne der schwarz glänzenden Zaunstreben läuft nach oben spitz zu, als ob sie dazu erbaut worden sind, Leute darauf aufzuspießen und jämmerlich verenden zu lassen.
Bei der Vorstellung, dass ich gleich auf das unheimliche Gelände treten muss, welches von dem Zaun eingeschlossen vor uns thront, schaudert es mich.

Massen an Menschen drängen sich an mir vorbei, als ich unvermittelt stehen bleibe und Ning am Arm festhalte, damit auch sie nicht weiter geht. Sie sieht mich fragend an, doch ich kann nur wie paralysiert auf die Leute schauen, welche alle in das riesige Gebäude strömen.

"Das ist Wahnsinn", flüsterte ich fassungslos. "Keiner von ihnen wehrt sich, sie gehen einfach. Sie ergeben sich ihrem Schicksal."

Ich mustere einige von ihnen vorsichtig von der Seite. Alle haben den selben müden, leeren Gesichtsausdruck aufgesetzt. Als ob sie schon tot wären...

"Ich spüre die dunkle Aura dieses Ortes. Lass uns weg von hier, Ning!"

Ich sehe sie flehend an und kralle mich noch fester an ihren Arm. Doch ich ernte nur ein Augenverdrehen von meiner Freundin, dann reist sie sich los und schiebt mich weiter, mitten rein in die sprichwörtliche Hölle auf Erden.

Als ich versuche, mich zu wehren, meint sie seufzend: "Hinata, das ist doch nur die Schule."

"Sag ich doch - Dunkle Aura!", verteidige ich mich und verschränke bockig die Arme vor der Brust, bleibe aber nicht stehen. Wieder verdreht sie die Augen, schnappt sich meine Hand und zieht mich hinter sich her, hinein in Unmengen aus müden, nervigen, pubertierenden, stinkenden Teenagern.

* * *

Immer wieder fallen mir die Augen zu, während ich sehnsüchtig auf das Ende der Stunde warte. Geschichte... Wie ich es hasse. Warum muss ich denn bitte wissen, wann welcher langweilige Adlige geboren und gestorben ist und was weiß ich gemacht hat. Und überhaupt, heißt es nicht, man soll die Vergangenheit loslassen und in der Gegenwart leben? Oder jedenfalls so ähnlich.

Das Thema ist, soweit ich das mitbekommen habe, der koreanisch-japanische Krieg oder sowas. Und dann passiert es schon wieder.

"Jedenfalls gibt es da so eine Legende", meint unser Lehrer, dessen Namen ich nicht kenne - allerdings tippe ich auf Kim - und rückt die Brille auf seiner Nase zurecht.

Ich lasse meinen Kopf mit einem lauten Krachen auf die Tischplatte knallen. Mir egal, was die anderen jetzt denken. Ich hasse die Legenden, die uns unser Lehrer immer erzählt. Zu jedem, wirklich jedem langweiligen und absolut sinnlosen Geschehnis kennt er gefühlt zwanzig Stück - welche er uns jedes Mal stolz erzählt.

Auch heute lässt er es sich natürlich nicht nehmen. Mit einem Räuspern beginnt er:

"Wie wir bereits behandelt haben, gab es in den Anfängen der Kolonialisierung von Korea durch Japan einen reichen Seefahrer, welcher unter anderem der König der Freibeuter genannt wurde. Er soll eine Tochter gehabt haben, welche er sehr geliebt hat. Und als klar war, dass die Japaner bald auch in die Nähe seines Grund und Bodens kommen und ihm seine Schätze rauben würden, gab er seine kleine Tochter einem guten Freund von sich, welcher sie sicher großziehen sollte. Doch mit ihr verschwand auch ein kostbarer Kompass, ein Familienerbstück mit unschätzbarem Wert."

Seine Stimme hebt sich bei der Schilderung dieser Ereignisse um ein ganzes Stück und er gestikuliert wild mit den Armen.

"Man geht davon aus, dass er ihr den Kompass mitgegeben hat. Und jetzt kommt es!"

Er legt eine bedeutungsschwere Pause ein. Da bin ich ja mal gespannt.

"Während der König der Freibeuter von den japanischen Eroberern ausgeraubt und schlussendlich umgebracht wurde, sah man die Tochter nie wieder, sie lebte inkognito weiter. Allerdings sagt man, dass sie, genau wie alle ihre Nachfahren, ganz in der Nähe des heutigen Seouls gewohnt habe, vielleicht sogar mitten drin.
Es wurden keine Aufzeichnungen über ihre Nachkommen geführt, es gibt keine Stammbäume und sonstiges. Man weiß also nicht, ob die Linie dieses Freibeuters noch besteht oder ob sie sich im Sand verlaufen hat. So oder so wäre es aber gut möglich, dass der Kompass noch existiert. Entweder wird er im Geheimen immer noch weitervererbt oder er wurde ganz einfach vergessen. Eine solche Reliquie wäre bestimmt Millionen wert. Und wie gesagt, ist es nicht ausgeschlossen, dass er gar nicht allzu weit von uns entfernt ist!"

Er sieht uns begeistert an.

"Aha", brumme ich gelangweilt, woraufhin ich einen bitterbösen Blick von ihm bekomme. Ja, wenn Blicke töten könnten, wären einige von uns schon lange Serienkiller.

Gerade will er zu einer Standpauke ansetzen, doch zum Glück rettet mich die Klingel. Ohne auf Proteste des Lehrers zu warten, springe ich auf, schnappe mir meine Tasche, stolpere aus dem Raum und lasse meine verwirrt schauenden Mitschüler sowie einen recht verdatterten Lehrer einfach stehen. Bloß weg hier - sonst wird von dem Scheiß nur der letzte erbärmliche Rest meines Gehirns weggeätzt.

~~~

-Mie

Eigentlich liebe ich Geschichte und Legenden. Es schmerzt so ein Kapitel zu überarbeiten.

Am anderen Ende der Welt | BTSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt