Kapitel 57 ~ Anyu

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- Hinata -

Samstag Nachmittag und ich bin wieder in dieser kleinen Straße, in der das Uhrengeschäft von Yoo-gun ist. Eine Woche ist vergangen, seit ich ihm den Kompass zur Reparatur gegeben hatte. Eine wirklich anstrengende Woche, in der ich Hobi oft sah, aber eigentlich kein einziges Wort mit ihm gewechselt habe. Genauso wenig konnte ich mit den anderen sprechen. Ein Grund, warum ich mich auch nicht mit Jin unterhalten hatte.

Das rote Schild des Geschäfts leuchtet mir schon von weitem entgegen und die Glöckchen erklingen hell und klar, als ich eintrete. Der Geruch der alten Bücher weht mir wieder entgegen. Ich sollte öfter eine Uhr kaputt machen. Ich fühle mich hier wohler als es sein sollte.

Yoo-gun kommt aus dem Hinterzimmer geeilt, als er die Glöckchen hört. Er lächelt mir entgegen.
"Chang Hinata? Ich habe den Kompass hier."

Dieser Mann scheint wirklich ein unfassbar gutes Gedächtnis zu haben. Die meisten Leute bemerken mich nicht einmal, wenn ich direkt neben ihnen stehe. Im Unterricht sehr praktisch, nur nervt es, wenn man jedes Mal aufs Neue erklären muss, wer man ist.

Yoo-gun winkt mich zu sich an den Tresen und holt vorsichtig den Kompass hervor, den er wieder sorgfältig in das Stück Stoff gewickelt hatte. Dieses legt er jetzt beiseite, um mir sein Werk zu offenbaren.

"Es war nicht einfach, ihn zu reparieren. Das waren ja mehr Einzelteile als ein Mensch Knochen im Körper hat."
Yoo-gun grinst mich über seine seltsame Doppelbrille hinweg an. Also sein Humor ist gewöhnungsbedürftig, wie ich gerade feststellen durfte.

"Darf ich fragen, woher Sie ihn haben?"

Ich zucke mit den Schultern. Es ist, glaube ich, hier nicht gerade empfehlenswert, davon zu berichten, wie ich in alte Fabrikgebäude einbreche.
"Ein altes Familienerbstück."

Yoo-gun sieht mich erstaunt und ungläubig an. Das war dann wohl die falsche Ausrede.
"Haben Sie ihn sich schon einmal genau angesehen?"

Er öffnet vorsichtig den gläsernen Deckel des Kompasses und zeigt mir eine Gravur auf dem Ziffernblatt, die mir vorher gar nicht aufgefallen ist.

12 03 H A

Ich runzele die Stirn. Was zur Hölle bedeutet das?

"Sie wissen nicht, was das bedeutet, oder?"

Ich schaue erst zu Yoo-gun dann wieder zum Kompass und schüttle meinen Kopf. Woher auch?
"Passen Sie auf. Das ist etwas ganz besonderes. Jeder gute Uhrenmacher weiß darüber Bescheid. Folgen Sie mir."

Er bringt mich zu einem der unzähligen, hölzernen Bücherregale an der Wand und zieht ein scheinbar uraltes Buch daraus hervor. Der alte Mann pustet den Staub vom Einband, sodass ich heftig niesen muss. Dann klappt er es an einer Stelle auf, in der ein ausgeblichener roter Faden als Lesezeichen liegt.

Auf der Doppelseite ist ein wunderschönes, riesiges Segelschiff abgebildet zusammen mit ein paar Männern, die dann wahrscheinlich die Mannschaft darstellen. Alles sieht relativ alt aus. Die Fotos sind ziemlich unscharf und doch erkennt man eindeutig, dass der hochgewachsene Koreaner in der Mitte eindeutig ihr Kapitän sein muss.

"Die Zahl 12 03 ist die Nummer des Schiffs - Sie müssen wissen, jedes Schiff der Regierung war unter einer Nummer registriert. Und H A sind die Initialen des Kapitäns. Das A steht für Anyu. Bei dem H ist man sich sehr uneinig. Anyu bekam den Kompass noch vor der Kolonialisierung von der Regierung zum Dank für seine Dienste. Er war Pirat, arbeitete aber auch teilweise für das koreanische Reich und war sehr erfolgreich, weshalb man ihn auch den König der Freibeuter nannte, auch wenn es in Korea keine wirklichen Freibeuter gab. Seit 1910 wird der Kompass vermisst. Das ist das Jahr, in dem Korea eine Kolonie Japans wurde."

Das ganze erinnert mich an die Legende, die uns unser Lehrer vor kurzem in Geschichte erzählte. Plötzlich schwirren unzählige Fragen durch meinen Kopf. Es fühlt sich an, als würde sich gerade ein Puzzle zusammensetzen, das vor mir noch nie jemand gelöst hat.

"Und warum war der Kompass plötzlich verschwunden? Warum war er ein Freibeuter, obwohl es sowas gar nicht hier gab? Kann es sein, dass er eine Tochter hatte?"

Yoo-gun gibt angesichts meiner vielen Fragen ein leises Lachen von sich. Er klappt das Buch mit einem lauten Knall wieder zu, sodass erneut eine Wolke aus Staub aufsteigt, und stellt es an seinen Platz zurück.
"Sie haben viele Fragen, aber die kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich interessiere mich zwar sehr dafür, habe aber nicht genügend Quellen für befriedigende Antworten."

Er geht gebückt zurück zum Tresen und packt mir meinen Kompass mit großer Sorgfalt zusätzlich noch in eine kleine Schachtel. Dann sieht er wieder mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen zu mir auf.

"Dieser Kompass ist mehr wert als das ganze Seoul Museum of History. Eigentlich müsste man ihn tatsächlich dort abgeben. Wenn er allerdings ein Familienerbstück ist, haben Sie ein Recht darauf ihn zu behalten. Sollten Sie noch mehr über ihn herausfinden, können Sie mir gerne Bescheid geben."

Der Uhrenmacher lächelt mir aufmunternd zu und schiebt mir die Schachtel über den Tresen.
"Ich kann Ihnen meine Bücher leider nicht mitgeben. Wie Sie sicher bemerkt haben, sind sie schon sehr alt und ich möchte nicht riskieren, dass dann die Hälfte der Seiten fehlen. Aber Sie können sehr gern herkommen und sich belesen."

"Vielen Dank."

Ich nehme die Schachtel und lege sie behutsam in meinen Beutel, nachdem ich ihm das Geld gab, das er verlangte. Als ich das Geschäft verlasse, habe ich ein fettes Grinsen im Gesicht. Ich habe das Gefühl der Lösung einer Menge Geheimnisse auf der Spur zu sein. Mittlerweile kann ich meinen Vater mit seinem Testament fast verstehen. Solche Geheimnisse lassen einen einfach nicht mehr los.

Moment. Das Testament.

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-Joiy

Am anderen Ende der Welt | BTSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt