Kapitel 60 ~ Umzug

49 11 17
                                    

- Sewon -

Ich laufe die letzten Schritte in Richtug Nam-gis Laden um Ye-seo abzuholen. Über Kopfhörer höre ich Linkin Park. Hinata hat mir diese Band irgendwann mal empfohlen und seitdem bin ich fast komplett auf Rockmusik umgestiegen.

Um Ye-seo abzuholen hab ich extra das Date abgesagt, was ich für heute geplant hatte. Zwar geht bei mir meine Liebe eigentlich vor, weshalb ich in letzter Zeit selten Dinge mit meinen Freunden unternommen habe, doch der Gedanke wie schlecht es Ye-seo geht, hat mich nicht losgelassen und ich habe meinem Freund abgesagt, was er auch verständnisvoll aufgenommen hat.

Mit dem Kopf im Rhythmus wippend trete ich durch die Holztür in den stickigen Raum und gehe zur Theke, hinter der aber niemand steht. Ich nehme mein Handy aus der Hosentasche, schalte die Musik aus und nehme die Kopfhörer aus meinen Ohren. Erst jetzt höre ich die gedämpften Rufe, die wütenden Stimmen, welche aus dem Nebenraum zu mir dringen.

Eine der Stimmen gehört eindeutig zu Ye-seo, stelle ich fest, die zweite wahrscheinlich Nam-gi. Ohne weiter darüber nachzudenken gehe ich einfach um die Theke herum und öffne die Tür in das Hinterzimmer, in dem die beiden wohnen. Bei dem Anblick, der sich mir bietet, bleibe ich augenblicklich wie angewurzelt stehen.

Nam-gi hat sich bedrohlich vor Ye-seo aufgebaut und wirft ihr wütend Beleidigungen entgegen während sie scheinbar mit den Tränen kämpfend vor ihm steht und sich bemüht, nicht wegzusehen und seine Blicke zu erwidern. Beide haben mein Kommen nicht bemerkt.

Auf einmal greift ihr Vater grob nach ihrem Handgelenk und holt zum Schlag aus. Das ist der Moment, in dem mein Gehirn sich abschaltet und meinem Körper die komplette Kontrolle überlässt. Mit einem großen Schritt stehe ich neben ihm, reiße ihm am Arm zu mir herum und schlage ihm mit meiner geballten Faust direkt ins Gesicht. Ein ungesundes Knacken ertönt und ich lasse ihn zu Boden fallen.
Schwer atmend baue ich mich nun über ihm auf und sehe mit Wohlwollen, dass seine Nase heftig blutet; wahrscheinlich habe ich sie gebrochen.

"Wie gewissenlos kann ein Mensch sein, seine eigene Tochter zu schlagen?", spucke ich ihm abfällig entgegen.

Dann wende ich meinen Blick Ye-seo zu. Mit großen Augen steht sie vor mir und starrt ihren am Boden liegenden Vater an. Ich will mich schon abwenden und mit ihr den Laden verlassen, als ihr Vater mit kratzender Stimme an Ye-seo gerichtet noch einmal beginnt zu sprechen.

"Ich habe dich immer im Glauben gelassen, ich wäre dein Vater."
Überrascht blinzle ich ein paar Mal und auch Ye-seo sieht ihn schockiert an. Nicht seine Tochter? Wie kann das sein?
Nam-gi lacht angesichts unserer offensichtlichen Verunsicherung sarkastisch auf.

"Ich habe dich undankbares Stück Scheiße aufgenommen, nachdem ich deinen Vater und damit dein einziges Familienmitglied, bei einem, nennen wir es mal, kleinen Konflikt erschlagen habe."

Beide starren wir den brutal grinsenden Mann auf dem Boden fassungslos an, doch schließlich schaffe ich es, wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Abgrundtiefer Ekel bahnt sich nun seinen Weg in mir nach oben. Alles, was ich in diesem Moment will, ist weg hier.
Ich greife nach Ye-seos Hand, schnappe mir die kleine Reisetasche und das Skateboard, die neben ihr auf dem Boden liegen und ziehe sie raus aus dem Laden und, wie ich hoffe, raus aus diesem Leben.

Ein paar Minuten gehen wir schweigend nebeneinander her, bis ich den Mut fasse, um sie das zu fragen, was mich gerade am meisten beschäftigt: "Warum hat er das getan?"

Sie verstand sofort, wovon ich sprach. Erst reagiert sie gar nicht, weshalb ich befürchte, sie nur unnötig mit den Gedanken an ihren "Vater" zu quälen, doch dann antwortet sie leise: "Ich hab gesagt, ich würde umziehen, weil ich es nicht mehr aushalte, da ist er durchgedreht. Ich bin undankbar, hat er gesagt. Wahrscheinlich geht es ihm nur darum, wer jetzt für ihn die Drogen vertickt."

Sie seufzt, doch als sie mich ansieht haben sich ihre Augen mit Tränen gefüllt. Die Gefühle aber, die sie widerspiegeln, sind keine Trauer und keine Wut, eher Erlösung und unendliche Erleichterung.

Den Rest des Weges zu mir nach Hause laufen wir schweigend nebeneinander her.

* * *

- Ye-seo -

Keuchend kommen wir im siebten Stock des Hauses an, in dem die Wohnung von Sewon und seiner Familie ist. Sewon zieht einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und öffnet die Haustür.
"Das da hinten ist mein Zimmer." Er deutet auf das Ende des schmalen Ganges. "Ich habe eine Matratze als Übergangslösung besorgt, aber ich bin schon auf der Suche nach einem Bett."
Ich muss schmunzeln.

"Es tut mir leid, aber mein Vater hat mich vorhin angerufen, dass ich ihm noch in der Werkstatt helfen soll. Spätestens um sieben bin ich aber wieder da und meine Mutter kommt schon vorher irgendwann. Sieh dich ruhig um." Er wirft mir noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor er verschwindet.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, ziehe ich meine Schuhe aus und gehe zu Sewons Zimmer. Es ist sehr klein, gerade mal ein Bett, die Matratze, die er für mich hingelegt hat und ein Regal passen hinein. Es gibt nur ein Fenster, welches aber groß genug ist um den ganzen Raum in warmes Licht zu tauchen.

Ich stelle meine Reisetasche mit meinen wenigen Habseligkeiten und das Skateboard neben das Bett und sehe mir die Unmengen an Fotos an, mit welchen Sewon die kargen Wände seines Zimmers verziert hat. Bilder von sich und seinen Eltern, manche scheinbar erst vor kurzem entstanden, andere, auf denen er noch ein Kleinkind war.

Neugierig gehe ich wieder in den Flur, um mir noch den Rest der Wohnung anzusehen. Auch hier verzieren Fotos die Wände, was mir vorher gar nicht aufgefallen ist. Auf jedem einzelnen waren sie als glückliche Familie abgebildet. Eine Familie - etwas, was ich nie hatte, etwas was ich nie haben werde. Ohne, dass ich es merke, bilden sich wieder Tränen in meinen Augen.
Mein Vater - mein wahrer Vater - soll schon vor Jahren ermordet worden sein?

Während ich mir jedes der Bilder einzeln ansehe, verliere ich die Zeit komplett aus meinen Augen.

"Du musst Ye-seo sein, richtig?" Erschrocken fahre ich herum. Vor mir steht eine ältere Frau, welche mich freundlich anlächelt. "Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Mein Name ist Yumi, ich bin Sewons Mutter."

Ich erwidere ihr Lächeln. "Ja, ich bin Ye-seo."
"Na dann, willkommen in der Familie. Sewon hat schon viel von dir erzählt."

Ich stutze. In der Familie. Eine echte Familie ist mehr als ich mir je erhofft habe, denn auch Nam-gi habe ich nie als Familie angesehen.
Doch das hier - ich wende meinen Blick wieder den Fotos zu und mein Lächeln wird zu einem breiten Grinsen. Ich will mich wieder zu Yumi umdrehen, doch da ist sie schon weg.

"Ich mache Abendessen, willst du mir helfen?", kommt es aus einem anderen Zimmer. Schnell gehe ich zu ihr. Ja, das könnte wirklich zu einer Familie für mich werden.

~~~

-Joiy

Am anderen Ende der Welt | BTSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt