Fahrt ins Grüne

70 9 4
                                    

Wie versprochen, klingelte Enzio am Nachmittag bei ihr. Völlig verschlafen öffnete sie ihm und wunderte sich, warum er im Gegensatz zu ihr putzmunter aussah. Mit kurzem Blick maß er sie von oben bis unten und überging ihren legeren Aufzug. Völlig unpassend stand er vor ihr elegant mit Seidenhemd, Anzughose und Lederslippern bekleidet. Keine Strümpfe.
Und nicht wie ein Nachtwächter, sondern wie ein Geschäftsmann sah er aus. Ihr war bereits aufgefallen, dass nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer in der Toskana Wert auf schicke Kleidung legten. Manchmal fand sie das, wie jetzt, übertrieben.

„Schön, dass du da bist. Komm herein."
„Danke. Wie ich sehe, bist du noch nicht umgezogen. Ich wollte dich zu unserem Ausflug abholen. Hast du das vergessen?"
„Ein Ausflug?"
„Ja. Erinnerst du dich nicht? Zu einem Ort, wo wir in Ruhe reden können."
„Das weiß ich. Nur dachte ich, dass es in der Nähe wäre. Wohin geht es?"
„Überraschung. Wir fahren mit dem Auto."

Ohne dass sie ihn extra darum bat, griff er nach dem Schnürsenkel, um seine Schuhe auszuziehen, was sie wiederum positiv in Erstaunen versetzte. Er war ein Mann voller Gegensätze.

„Lass sie an", forderte Casia ihn auf.
„Ich weiß, dass die Deutschen das nicht mögen", und ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen.
Er beugte sich vornüber und Casia erhaschte einen Blick auf seinen Nacken, was sie davon abbrachte zu fragen, woher her das mit den Deutschen so genau wußte. Für einen Moment sah sie am Haaransatz sein kunstvoll verziertes gotisches Fenstertattoo, das von Bäumen umrahmt ein Dreieck bildete.
„Möchtest du Hausschuhe?"
„Nein, danke. Ich lauf gern in Strümpfen."
Sie drehte sich um und ging voran. Mit einer ausladenden Armbewegung hieß sie ihn in ihrem Ein-Zimmer-Appartement willkommen: „Bitte sehr, mit mio piccolo regno."

Er murmelte etwas von „sehr gemütlich" und sie bot ihm einen Kaffee an, den er dankend ablehnte, so dass sie sich selbst großzügig einschenken konnte. Stattdessen nahm er ein Glas Wasser. Auf einem Barhocker ihrer kleinen Küchentheke nahm er Platz, während Casia sich im Bad umzog, nebenbei ihren Kaffee schlürfend.

Vor dem Hauseingang stand ein gelber und uralter Fiat Nuova 500, für den sich Casia sofort begeisterte, zumal es die Cabriolet-Ausführung war. Wie ein Honigkuchenpferd grinste sie als sie sich in die bequemen Sitze einkuschelte.
Sie fuhren aus Pisa in Richtung Nordwesten und erreichten nach einer halben Stunde die Stadt Lucca vor derem Verteidigungswall aus dem Mittelalter sie parkten.
Offenbar hatte Enzio ein bestimmtes Ziel im Sinne, denn Casia hatte kaum Zeit sich umzusehen. Die Häuser waren eng aneinander gebaut und schienen sehr alt. Gelb, Ocker und Beige wechselten sich ab. Touristen schlenderten mit einem Eis in der Hand umher. Aber hier war längst nicht so viel los wie in Pisa. Sie mochte die Stadt auf Anhieb.
Erst vor einem Haus das von einem hohen Turm gekrönt war, machte er Halt. Er schloss die Tür mit einem klobigen Schlüssel auf und dann stiegen sie unzählige Stufen hinauf bis sie ins Freie traten.
Sieben Steineichen spendeten ihnen Schatten auf wundersame Weise. Federleicht als wolle sie dieses Wunder nicht stören, strich Casia über die raue und gerissene Borke. Was mochten dieses Bäume erlebt haben? Was gesehen haben? Was wollten sie nie sehen und mussten es ertragen. Unwillkürlich fragte sie sich auch, welches Seelenwesen zu ihnen gehörte und wo es jetzt wohl sei. Es musste alt sein. Ein Weggefährte von Esclarmonde höchstwahrscheinlich.

Enzio lies Casia genügend Zeit den Ausblick über die Häuser und umliegenden Berge der Apennin und Apuanischen Alpen zu bestaunen.
Dann stellte er sich neben sie, um auf den eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens zu sprechen zu kommen.
„Hier oben belauscht uns garantiert keiner. Was hast du für Fragen?"
„Sag mal, was meintest du mit, dass die Donna mich in ihre Familie aufgenommen hat? Wie eine Adoption?"
„Nein", lachte er. „Sagen wir besser, du gehörst von nun an zu ihrem Gefolge. Verstehst du?"
„Achso."
Casia kam sich dumm vor. Das hätte sie sich denken können.
„Sie erzählte mir etwas von Lekkios und Leschies und das ich dich über sie befragen soll."
„Wo soll ich da anfangen?", überlegte Enzio und strich sich über sein glattrasiertes Kinn. „Viel weiß ich nicht."
„Immerhin kennst du die Begriffe. Ich habe noch nie davon gehört. Warum wollen die einen Krieg anzetteln?"
„Einen Krieg? Wieso einen Krieg? Woher nimmst du auf einmal einen Krieg?", bombardierte sie Enzio erschrocken mit seinen Fragen und schaute sie an.
„Gegen uns Menschen. Hat mir Esclarmonde gesagt."
„Oh, die Donna. Si, naturalmente. Das Einzige was ich weiß ist, dass beide zu den uralten Waldgeistvölkern gehören."
„Wieviele gibt es?"
„Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich soviel wie es Wälder gibt. Im Schwarzwald lebt meines Wissens noch eins. Sie existierten schon bevor an uns Menschen überhaupt zu denken war. Die Lekkios sind in Finnland heimisch, die Leschies in Böhmen."
„Mehr weißt du nicht?"
Ratlos zuckte Enzio mit den Schultern: „Nein."
„Dann müssen wir zurück zu ihr und ich frage sie."
„Das geht nicht."
„Warum?", rief sie frustriert aus und fegte mit ihren Händen pfeifend durch die Luft.
„Sie erscheint, wann sie will. Wir können sie nicht rufen."
„Na, toll. Was meinst du, warum könnte ein Waldvolk einen Krieg wollen? Und welche Art von Krieg? Ich glaube nicht, dass sie eine normale Konfrontation oder einen offenen Kampf meinte."
„Vermutlich nicht", stimmte Enzio ihr zu. „Das würde ihrem Wesen widersprechen. Bomben und Raketen zerstören ihr Lebensgebiet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in deren Sinne ist."
„Sag mal, gehört der Botanische Garten nicht zur Uni?"
Si. Warum?"
„Vielleicht gibt es historische Aufzeichnungen."
Enzio winkte ab: „Die habe ich bereits erforscht."

Ein wenig erstaunte es Casia, dass ein Nachtwächter sich damit beschäftigt haben soll. Andererseits, wenn es ihre Familie beträfe, hätte sie vermutlich nicht locker gelassen, bis sie etwas herausgefunden hätte und ja, sie hätte sich aller verfügbaren Quellen bedient.
„Es gibt einen Ort, den ich dir zeigen möchte. Da du quasi zur Familie gehörst, hast du ein Recht ihn zu sehen."
Überrascht lehnte sich Casia etwas zurück. Was sollte das sein? Wo sollte es sein?
„Geheimnisvoller als dieser hier?", breitete sie ihre Arme aus.
Sicuramente."
Va bene. Und wo, wie, wann treffen wir uns?" Sie konnte es kaum erwarten.
„Ich habe einiges zu erledigen. Treffen wir uns übermorgen am Eingang des Botanischen Garten. Punkt zehn Uhr am Vormittag."

A Magical LightWhere stories live. Discover now