Geheimes Efeu

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Enzio führte sie zwei Tage später in einen Bereich, der für Besucher gesperrt und ihr nie vorher aufgefallen war. Über dunkle Tannenpfade gelangten sie vor eine Efeuwand, die einen schmalen Serpentinenweg verbarg bis sich vor ihnen eine kleine Fläche öffnete auf der ein Gewächshaus stand. Dessen gotische Spitzbogenfenster waren blind, so dass keiner durchsehen konnte.
Enzio ging voran, zog denselben klobigen Schlüssel wie für das Turmhaus in Lucca aus seiner Hosentasche und schloss damit die Tür auf.
Casia schaute wie hypnotisiert auf das Bild seines Nackens, denn die Form der Glasrahmen ähnelte dem des Tattoos.

Im Inneren empfing sie ein schwüle Feuchte und es befanden sich Pflanzbänke mit unzähligen Baumsetzlingen darin, wie jeder es in einem Gewächshaus erwarten würde.
„Was soll hier besonderes sein", fragte Casia. Ein wenig mulmig wurde ihr. Was wusste sie schon über ihn? Jetzt schämte sie sich für ihre Naivität ihm bis jetzt blind vertraut zu haben. Was, wenn er ein Verbrecher war?
„Warte es ab und zeig mehr Geduld. Du wirst es zeitig genug sehen."
Casia war nur nicht klar, was sie sehen würde. Sie biss sich auf die Zunge, um keinen flapsigen Kommentar auf Enzio loszulassen.
Nach ungefähr 15 Metern blieben sie in der Mitte stehen. Ein Eisengeländer schützte den Abgang in die Tiefe.
Seit wann gab es unter Gewächshäusern Keller? Casia begann zu frieren und rieb sich über die Gänsehaut ihrer Arme. Unauffällig sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um und versuchte sich wie die Geheimagenten in Büchern jedes Detail zu merken.
In einer Ecke entdeckte sie Schaufel, die sie im Notfall zur Verteidigung benutzen konnte. Aber wie sollte sie die vielleicht zwanzig Meter überwinden?
Ihr Blick glitt weiter.
Den gotischen Baumerkmalen zu urteilen, bildeten vielleicht alte Grundmauern eines Klosters das Fundament. Gewölbe gehörten dazu.
„Ladies First", meinte Enzio und wies höflich nach unten.
Die abgewetzten Stufen zeigten, dass die Treppe auch in jüngerer Zeit oft in Benutzung gewesen war.
Casia schluckte ihre Angst hinunter.
Auf eine Erklärung, wohin ihr Weg führte, wartete sie vergeblich. Nachfragen wollte sie auch nicht, also stieg sie in die Tiefe.

Zuerst empfing sie die erwartete Dunkelheit und einen Kellergang, dem sie einige Zeit folgten.
Enzio lies sie durch eine weitere Tür eintreten. Voller Ehrfurcht schaute sie sich um und konnte kaum glauben, was sie sah. Ihr Historikerherz schlug im Akkord. Selbst wenn er sie hier festhalten wollte, doch das bezweifelte sie jetzt, ließ es sich hier Wochen aushalten.

Wie in einem Atrium bildete mehrere Höhenmeter über ihnen eine Glaskugel das Dach. Casia wusste nicht, welche Energiequelle das Licht spendete, doch war es hier taghell.
Diese Bibliothek war das gigantischste was sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie Durchgänge die weitere Regale von Büchern zeigten und Türen, die teilweise geschlossen waren.
„Das ist tatsächlich großartig. Du hast nicht übertrieben."
„Hiermit präsentiere ich dir die Bibliothek der Familie De' Impianto. Donna Esclarmonde legte sie noch zu ihren Lebzeiten an."
„So alt? Wow. Und du meinst hier finden wir die Antworten?"
„Wenn, dann hier."
Va bene. Lass uns mit der Suche beginnen."

Abhandlungen und Nachschlagewerke der bedeutendsten Pflanzenkundigen von Europa waren hier vorhanden, unter anderem von L'Anguillara, Linné, Mendel, Hildegard von Bingen oder Leonhart Fuchs.
Daneben gab es mythologische und mystische Lexika. In einem davon wurden sie fündig.

„Das Reich der Lekkios befindet sich im Norden von Europa. Finnland ist das waldreichste Land und ein großer Teil gehört zur Taiga. Hauptsächlich Kiefern, Fichten und Birken wachsen hier. Der Boden ist mit Blaubeersträucher und Moosen bedeckt. Kommt man weiter nördlicher, bestimmen Flechten die Landschaft", las Enzio vor. „Sie haben einen Herrscher, der dort seinen Wirkkreis hat."
Er blätterte weiter.
„Die Leschies hingegen trifft man hauptsächlich in Böhmen an. Es gibt noch andere Völker. Doch diese beiden sahen von Anfang an die Menschen als Bedrohung für ihre Existenz an, sobald sie sahen, dass sie das Holz ihrer Bäume verbrannten, um zu überleben. Sei es um sich zu wärmen, Raubtiere abzuwehren oder Nahrung zuzubereiten."
„Das verstehe ich ja. Aber sterben Bäume nicht auch? Sie haben doch kein ewiges Leben?"
„Nein, du hast recht. Aber genau das war der Punkt. So lange wir Menschen heruntergefallene Äste sammelten, war alles gut. Sobald sie sich mit wieauchimmer geartetem Werkzeug an lebenden und gesunden Bäumen zu schaffen machten, war es mit der Toleranz vorbei."
„Hm. Sind sie auch gegen Rehe, weil die gern Baumrinde oder frische Triebe fressen? Oder anderen Tiere?"
„Ja. Anfangs stellten sie Pflanzenfresser und Menschen auf eine Stufe. Der Mensch war erst ihr Hauptfeind Nummer eins als er zu fällen und zu roden begann."
„Kann ich verstehen. Millionen Jahre waren sie die Herrscher auf der Erde und dann kommt ein anderer und zerstört ohne Rücksicht auf sie das was ihnen am Wichtigsten ist."
„Glücklicherweise denken nicht alle so."

Seufzend lehnten sie sich in ihre Ledersessel zurück und hingen ihren Gedanken nach. Jetzt wussten sie wer und was die Lekkios und Leschies und was ihre Ambitionen waren. Doch wie sollte sie mit diesen Kenntnissen einen Krieg verhindern? Und wann sollte er überhaupt stattfinden? Darauf hatten beide keine Antworten.

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