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Sonnenblumengrab

Ich hatte immer gedacht, Fliegen wäre ganz einfach.
Ich müsste nur abspringen und wenn ich genug Anlauf hätte, dann könnte ich abheben und in den Himmel aufsteigen.
Ganz einfach.
Ganz leicht.
Als ich älter wurde, wurde mir klar, dass Menschen viel zu schwer sind, um zu fliegen.
Abgesehen von dem Mangel an notwendigen Federn natürlich.

Elisa liebte Sonnenblumen. Vielleicht ist es ignorant von mir, aber ich habe sie nie gefragt, warum. Ich habe die Dinge, die sie betrafen, gerne so hingenommen, wie sie waren.
Ihre hellblauen Converse, von denen sie sich nicht einen Tag trennen wollte und ihr schwarzer Nagellack. Ihre blondes Haar.
Ich habe kaum etwas davon hinterfragt.
Stattdessen habe ich meine Zeit lieber damit verbracht, mich zu fragen, warum sie so wunderschön war. Ihre Schönheit war für mich so lange Zeit kaum begreifbar, aber zu meiner Verzweiflung schienen die Menschen um mich herum weniger Probleme zu haben, sie in Worte zu fassen.
Wie so oft in unserem letzten Sommer, schleppte sie mich mit sich zu dem Sonnenblumenfeld, das ein Bauer vor Jahren am Rande unseres Dorfes angelegt hatte, um dort das Gelb zu pflücken und zu ihrer Mutter zu bringen.
Ich sah ihr dabei zu, wie sie gekonnt das Messer am Stamm ansetzte und die Blumen sauber abschnitt, bevor sie sie mir in die Hand drückte.
Sie schnitt mit einer Präzision, die man ihren fast knochigen Fingern kaum zugetraut hätte. Ihr Haar bedeckte ihr Gesicht und kringelte sich sanft um ihr Kinn, ihre Knie waren voller Erde und blauer Flecken, während sich ihre Hände langsam grün und gelb färbten.
Dann sah sie mich an und lachte.
„Was stehst du denn nur so hier rum, Dummkopf. Komm her und nimm mir das hier mal ab!“, sie winkte mich zu sich und riss mich aus meiner Trance.
Ich stolperte auf sie zu und hörte sie ein weiteres Mal lachen.
„Wo warst du denn wieder mit deinen Gedanken?“, fragte sie mich und drückte mir ihren Rucksack in die Hand. Ich lächelte und zuckte mit den Schultern, dann machte ich mich über ihren Rucksack her.
„Was haben wir denn hier?“ Ich stöberte neugierig in den Brotdosen und Getränkeflaschen, die Elisa mit sich umherschleppte. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und schmunzelte.
„Das wirst du bald erfahren“, versprach sie mir und strich sich die verschwitzen Haare aus der Stirn. Dann richtete sie sich langsam auf und hielt mir die letzten Sonnenblume hin. Ich tauschte sie gegen ihren Rucksack, dessen Riemen sie sich elegant auf die Schultern schob.
Sie funkelte mich an und griff nach meiner Hand, um mich mit sich zu ziehen.
„Komm, so lange haben wir nicht mehr, bevor die Sonne untergeht.“

Das Grab ihrer Mutter war friedlich und wunderschön. Immer, wenn wir hierher kamen, um ihre alten Blumen auszutauschen, war es, als bliebe die Zeit für einen Moment stehen.
Sogar die Sonne nahm sich einen Moment, bevor sie ihre Runde fortführte.
Elisa umfasste meine Hand noch ein wenig fester, bevor wir durch das Tor traten und ihr Griff lockerte sich erst, als wir den Friedhof wieder verließen.
Sie war ein lauter, energetischer Mensch, doch jedes Mal, wenn wir von hier weggingen, schien sie für Momente so in sich gekehrt, dass sie kaum wieder zu erkennen war.
Meine Hand schlug schließlich leer gegen mein Bein, als sie sie losließ und sofort vermisste ich die Wärme.
Es war verrückt. Für einen Moment schien ich beinahe traurig.

Wenn irgendetwas die Linde am Waldrand am besten beschreiben konnte, dann war es alt. Ihre knochigen Wurzeln ragten überall aus dem Boden und sogar die Bank, die man vor Jahren einmal neben ihr aufgestellt hatte, war verwittert.
Ihre Baumkrone reckte sich jedoch ikonisch in den Himmel und spendete gesegneten Schatten an viel zu heißen Tagen.
Ich breitete die Picknickdecke auf der Wiese aus, während Elisa begann, ihren Rucksack auszupacken.
„Wie viel hast du denn bitte dabei?“, lachte ich und schüttelte amüsiert den Kopf. Sie grinste mich nur an und zuckte ihre gebräunten Schultern.
„Ich hoffe es schmeckt dir“, meinte sie anstatt einer Antwort und ließ sich auf die Decke fallen.
Ich ließ meinen Blick über die Köstlichkeiten gleiten.
Elisa wollte Köchin werden, seit wir kleine Kinder waren und machte mich regelmäßig dafür zu ihrem Versuchskaninchen.
„Uhh, was ist das da?“ Ich deute auf ein Stück Kuchen direkt vor mir.
„Ananastorte.“
Ich seufzte leise. „Du machst mich fett“, beklagte ich mich und versenkte meine Gabel in der Torte.
„Weißt du was Ronja?“ Sie stopfte sich eine Frühlingsrolle in den Mund. „Das ist vollkommen okay für mich.“
„Ouch.“
Für eine Weile aßen wir stumm, bis die Sonne langsam begann unterzugehen und die Temperaturen abkühlten.
„Hast du vielleicht noch zufällig einen Pulli in deinem Rucksack versteckt?“, fragte ich und sah sie hoffnungsvoll an, während ich mir über meine Gänsehaut strich.
„Nah, aber du kannst meine Jacke haben.“ Sie warf sie mir zu und dankbar zog ich sie über.
„So, jetzt gib mir ein Stück von meiner Torte!“, forderte Elisa und ich hielt ihr ein Stück auf meiner Gabel entgegen. Sie schnappte danach und kaute es genüsslich. Als sie ihre Augen wieder öffnete, trafen sich unsere Blicke.
Ihre Augen waren so unverschämt blau, dass es mich fast frustrierte. Sie war so wunderschön.
„Ach weißt du war, fuck it“, hörte ich sie sagen und schon waren ihre Augen verschwunden.
Ich hielt die Luft an, als sie mich küsste, ihre Hände lagen sanft auf meiner Hüfte, bevor sie erschrocken zurück fuhr.
„Oh nein. Nein, es tut mir so leid Ronja, ich hätte nicht- ich.“
Ich schüttelte den Kopf. Nein. Verdammt. Verdammt.
„Elisa!“
„Nein. Bitte, vergiss das einfach, ich dachte…“
„Elisa! Halt die Klappe!“

Ihre Lippen waren weicher, als ich es mir jemals hätte erträumen können und ihre weichen Hände and meiner Hüfte, meinem Rücken, in meinen Haaren…
Mit einem Mal wurde mir klar, dass Menschen nicht zu schwer waren, um fliegen.
Sie waren dafür geboren.

RegenstürmeWhere stories live. Discover now