Kapitel 17.3

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~Cleophea

Rev und Zeke hatten mir aufgetragen, direkt nach dem Training zu berichten, wie es gelaufen war. 'Direkt nach dem Training' hatte ich dann allerdings noch um die Zeit, die man für eine ausführliche Dusche mit großer Warmwasserverschwendung und ein Nickerchen brauchte herausgezögert. Mal ganz davon abgesehen, dass Dawson vorher noch der Meinung gewesen war, mir ein Ohr abkauen zu müssen. Irgendwann lief ich dann über den Campus, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo Rev und Zeke sich gerade aufhielten. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zumindest Rev rauchend auf irgendeiner Bank finden würde war allerdings hoch, deshalb sah ich mich suchend um- und erblickte auf einmal die Internatsleiterin höchstpersönlich vor mir. Als sie mich sah, beschleunigte sie ihre Schritte und lächelte, als sie bei mir ankam. ,,Hallo Cleophea", sagte sie, ,,Gut, dass ich dich hier treffe. Ich wollte mit dir sprechen."
Ich überlegte einen kurzen Moment, ob ich irgendetwas angestellt hatte, kam aber zu dem Entschluss, dass ich die letzten Wochen die brave Musterschülerin gespielt hatte.

,,Worum geht's?", erkundigte ich mich.

,,Ich wollte dich fragen, wie das Training heute gelaufen ist."

Großartig, ich hatte schließlich herausgefunden, dass ich einen oskarreifen Walross-Abgang hinlegen konnte.

,,Äh... Ganz gut eigentlich", antwortete ich.

,,Das freut mich zu hören", erwiderte sie. Ihr Blick schweifte von mir zu etwas, das sich hinter mir befand. Stirnrunzelnd drehte ich mich um und erblickte... Seth? War die Person, die mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und gesenktem Kopf über den Weg schlich wirklich Seth? Die Körpergröße sowie die äußerst farbenfrohe Wahl der Kleidung sprachen definitiv für ihn, aber...der Gang, die Art wie er die Schultern hängen ließ und auf den Weg zu starren schien hingegen überhaupt nicht. Er kam vor uns zum Stehen und hob langsam den Kopf. Ich hatte Seth bereits einmal ziemlich erledigt gesehen- da hatte ich ihm Dornen aus dem Kopf gezogen und war mir ziemlich sicher gewesen, dass er seinen absoluten Tiefpunkt gehabt hatte. Aber das war kein Vergleich zu dem, was ich gerade sah. In seinen violetten Augen stand Schmerz, Schmerz und Trauer und auf einmal wünschte ich mir, ich könnte ihn in den Arm nehmen und ihm helfen damit klarzukommen, irgendwie. Wir waren sicher keine besten Freunde, aber als ich ihn so sah, war ich mir sicher, dass etwas Einschneidendes geschehen war. Etwas, das ihn vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Ich berührte ihn behutsam an der Schulter und stellte dabei fest, dass er zitterte. Sein ganzer Körper schien zu beben. Er sah uns an und schien gleichzeitig an uns vorbeizublicken.

,,Ich... Habe... Sie... Getötet", flüsterte er.

Sie? Mein Hirn begann auf Hochtouren zu arbeiten. Wer konnte sie sein? Wessen Tod würde Seth so sehr treffen, dass er aussah, als würde er sich von einer Brücke werfen wollen? Es schien kaum jemanden zu geben, der Seth wirklich nahe stand- doch dann dämmerte mir etwas.

Esme.

Seth starrte uns an, dann plötzlich schienen seine Beine unter ihm nachzugeben. Er kippte zur Seite und ein merkwürdiger, eindeutig nicht menschlicher Instinkt in mir regte sich und brachte mich dazu einen Satz nach vorne zu machen und ihn aufzufangen, bevor er auf dem Boden aufgeschlagen wäre. Eigentlich hätten wir in diesem Moment gemeinsam auf dem Boden landen müssen, aber meine göttlichen Gene schienen beschlossen zu haben, in diesem Moment mit mir zu sein. Und so kam es, dass ich einen mindestens neunzig Kilogramm schweren bewusstlosen Halbgott in den Armen hielt. Obwohl er mir die letzten Monate nicht selten das Leben zur Hölle gemacht hatte, war ich kurz davor, mit ihm zu heulen. Ich hatte es schon immer schrecklich gefunden, andere Leute leiden zu sehen. Manchmal war die Welt einfach nur grausam. So ziemlich jedes Wesen auf diesem Internat wusste, wie viel Esme Seth bedeutet hatte und nun hatte ausgerechnet er sie töten müssen. Das war nicht fair.
Soweit ich es über Seths Kopf hinweg erkennen konnte, sah Estelle überfordert zu uns. ,,Brauchst du...Hilfe?"
Ich wollte ihn niemand anderem übergeben, deshalb schüttelte ich den Kopf, was sie vermutlich nicht sehen konnte. ,,Nein, ich komme schon zurecht." Dabei warf Seths Gewicht mich in diesem Moment halb um und außerdem war es eine Kunst für sich, ihn zu tragen ohne dabei seine ewig langen Beine auf den Boden schleifen zu lassen. Irgendwie gelang es mir, Seth in sein Apartment zu schleppen und auf seinem Bett zu platzieren. Ich setzte mich neben ihn und atmete erleichtert aus. Genug Krafttraining für heute. Seths Brust hob und senkte sich stetig, aber seine Augenlieder blieben nach wie vor geschlossen. Ich strich ihm über den Kopf, als wäre er ein kleines Kind und redete irgendein dummes Zeug, weil ich ihn nicht einfach nur anstarren wollte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich schließlich wieder regte. Statt langsam die Augen zu öffnen, riss er sie förmlich auf und setzte sich ruckartig auf. Seine Atmung wurde schneller und er sah sich verwirrt um. Als sein Blick schließlich auf mich traf, stand noch immer diese tiefe Trauer in seinen schönen Augen.

,,Was ist passiert?", fragte er mit rauer Stimme.

,,Du bist zusammengebrochen. Ich hab dich dann hierher gebracht."

Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und schüttelte den Kopf.,,Ich bin...? Fuck... Danke."
Ich legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. ,,Es ist in Ordnung."
Er drückte die Wirbelsäule durch und starrte mich an. ,,Nichts ist in Ordnung! Gar nichts. Bitte geh. Lass mich in Ruhe. Ich muss... Ich muss jetzt alleine sein."
Ich verstand ihn und ich nahm es ihm nicht übel. Ich stand auf.

,,Es tut mir leid, Seth. Es tut mir so leid."

Er erwiderte nichts, nickte aber langsam. Nachdem ich noch einen letzten Blick auf ihn geworfen hatte, verließ ich das Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie Seth sich gerade fühlen musste. Es war schlimm genug, einen Menschen zu verlieren, der einem wichtig war, aber ihn selbst töten zu müssen war noch einmal etwas ganz anderes. Mittlerweile war ich mir fast sicher- Seth musste Esme geliebt haben. Das machte die ganze Sache noch schrecklicher. Das war alles sowas von verkorkst. Mir war die Lust auf einen entspannten Nachmittag mit Rev und Zeke vergangen, deshalb ging ich in mein Zimmer und verbrachte den Großteil der Zeit damit, nachdenklich die Wand anzustarren. Wie fühlte man sich wohl damit, eine geliebten Menschen getötet zu haben? Wie schaffte man es, damit zu leben? Seth hatte es tun müssen, aber dennoch war Esme durch seine Hand gestorben. Ich hoffte nur, dass er sich keine Schuld daran gab. Er hatte getan, was er tun musste und dafür verdiente er Respekt- das hätten nicht viele Leute geschafft.

TodessohnWhere stories live. Discover now