16. Calisto

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Calisto

Celias Familie war früher sehr musikalisch. Ihr Vater war ein exzellenter Pianist, ihre Mutter eine wundervolle Sängerin. Zusammen gaben sie in kleinen Klubs Auftritte für jubelnde Gäste. Da waren Celia und Lucien noch sehr jung. Sie fünf, er vielleicht sechs.

Und auch zu Hause, in dem warmen, gemütlichen Zuhause, in dem immer eine angenehme Stimmung herrschte, fanden die Klavierklänge ein Publikum. Während Mutter das Essen zubereitete, saß ihr Vater am Klavier, das seinen Platz neben dem großen Kamin hatte, und spielte Kompositionen von Chopin und Debussy für seine interessierten Kinder.

Luciens und Celias Augen waren weit und leuchteten vor Begeisterung, sie klatschten nach jedem neuen Lied und verlangten immer wieder Zugaben.
Ihr Vater lächelte und nahm sie dann meistens in den Arm und drückte sie ganz fest an sich, bedankte sich, bedankte sich für das Zuhören und versprach ihnen, dass sie irgendwann auch ihre Talente in einem solchen Maße ausschöpfen können. Er versprach, ebenfalls so begeistert zuzuschauen, wenn sie an seiner Stellen sitzen würden.

Jeder liebte ihren Vater, Emmanuel Fournier. Er schaffte es immer, anderen Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern und neue Interessen beizulegen. Wenn er abends in den winzigen Bars auftrat, mit Emotionen seine Hände über das Klavier gleiten ließ, dann war die Stimmung besonders schön, da wurde geweint und gelacht und Blumen auf die Bühne geworfen. Rosen und Nelken, die er aufsammelte und seinen Kindern gab.

Im Alter von 10 Jahren saß Celia auch einmal selbst an dem Flügel. Ihrem Vater war es immer wichtig gewesen, dass auch Celia die Chance hat, ihre Talente und Interessen auszuleben. Und so erklärte er ihr das Grundprinzip des Spielens, legt seine großen, warmen Hände auf Celias winzigen, während sie zusammen Nocturnes von Chopin spielten.

Seitdem Vater nach ihrem sechszehnten Geburtstag vor Jahren nicht mehr zurückkam, vermutlich in Paris blieb und dort nun ein erfolgreicheres Leben führt, hat Celia keine Klaviertasten mehr berührt. Das Klavier steht seit Jahren auf dem rostigen Dachboden, weg von allen Sichtfeldern, die Stille wurde mit Bibeln und katholischen Gesangsbüchern kompensiert.

Und nun das schwarze, elegante Klavier Calistos zu sehen, lässt Celias Herz kurz höher schlagen. Sie stellt ihre Tasse ab, steht ohne darüber nachzudenken auf und sieht es sich genauer an.
Sie hört Calisto hinter ihr einatmen, vermutlich lächelt er wieder, während sie sein Instrument mustert.

Auf dem Klavier steht eine weiße Kerze in einem goldenen Kerzenständer, sowie kleine Bücher, Skizzen und Pflanzen. Celia dreht sich zu dem Inhaber um, der sie mit warmen Augen beobachtet, ehe er aufsteht uns sich neben sie stellt. Mit einer eleganten Bewegung lässt er seine Hand über das Instrument gleiten, sieht dann zu Celia und öffnet den Vorderdeckel.

"Spielst du?"
"Natürlich",sagt er und schmunzelt, "aber nur für eine Gegenleistung, ich bin sehr begabt."

Celia kichert und verdreht die Augen.
"Geld habe ich selbst keins, aber ich kann dir eine Pflanze schenken, wenn es dir passt."

Calistos Wangen werden weich und seine Zähne strahlen in den weißesten Tönen.
"Ich dachte eher an Applaus, aber damit gebe ich mich auch zufrieden."

Sie sehen sich einen Moment an, er drückt immer wieder einzelne Tasten und lässt schiefe Töne erklingen, ehe Celia ein aufforderndes "Spiel schon" hervorbringt und er sich endlich setzt.

Calisto greift nach unten und verwandelt das Flimmern in die Anfangstöne der "Gymnopédie No. 1" von Erik Satie. Er spielt lustvoll, die Ärmel hochgekrempelt, die schlanken Finger tanzen über die Tasten, er lächelt über sein eigenes Werk.
Und wie er spielt. Unbeschwert, konzentriert und doch frei.

 𝐕𝐈𝐒𝐈𝐎𝐍𝐀𝐑𝐈𝐄𝐒 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt