2. Kunstgedanken

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Kunstgedanken

"Mir stieg zu Ohren, dass du die beste weibliche Studentin in deinem Kurs bist. Deine Arbeit scheint zu überzeugen."

Celias Bruder Lucien läuft neben ihr her, hat seine Arme verschränkt und um sich geschlungen, geht beinahe schon schwerfällig, wie in Tranche, dreht sich immer wieder leicht zur ihr. Seine Stimme ist ganz ruhig.

Die Lauft ist rau und eisig in ihrer Kälte, umschwirrt die beiden jungen Erwachsene, treibt um sie herum, spielt ihr alltägliches Spiel.

Celia mustert ihren Bruder, sieht wie er sein Kinn in seinem braunen Winterschal versteckt und gleichzeitig eine frische Zigarette zwischen den rosanen Lippen trägt.

"Es sind lediglich zwei weitere Mädchen in meinem Kurs. Ich mache keinen Unterschied und werde sowieso nicht gleich bewertet wie die Jungen. Das, was du hörtest ist unglücklicherweise nicht repräsentativ."

"Trotzdem",murmelt Lucien, "das ist doch schon mal etwas."

"Es ist ein Erfolg, den ich gerne annehme, jedoch hält die Freude nicht lang an, wenn ich bedenke, was ich im Gegenzug für meine Sünden zahlen muss."

"Bildung und Literatur sind nie Sünden."
Instinktiv schaut Lucien auf seine Hände und Celia folgt seinem Blick. Auf den Flächen befinden sich Wunden. Er spürt ihre Augen auf seiner Haut glühen und steckt seine Hände wieder in seine Jackentaschen, sieht nonchalant von ihr weg. Celia hat es nur am Rande mitbekommen, sie macht sich Sorgen.

"Ja, ich wünschte so einfach wäre es für mich. Ich könnte diesen Satz nicht mal in meinen Mund nehmen."

Lucien lässt einen einzelnen, kleinen Seufzer heraus, sucht schließlich in seinen Jackentaschen nach Streichhölzern, um die Zigarette, die seit Minuten so trocken in seinem Mund verbleibt, anzuzünden.

"Aber du hast keine Angst vor dem Verlieren?"

Celias Blick gleitet in die Richtung ihres Bruders, der mit einem unleserlichen Blick auf den Sportplatz schaut, den sie gerade passieren.
"Wieso fragst du mich das alles? Versuchst du mich gegen Mutter auszuspielen?"

"Keinesfalls",meint er, seine Stimme ein wenig nervöser. Er gibt das Suchen nach Feuer schließlich auf, steckt seine Zigarette wieder in seine Jackentasche.
"Ich bin nur interessiert, könnte man es nennen. Aber genug, du musst mir nichts sagen, wenn du nicht möchtest."

Celia ist skeptisch, schaut ihrem Bruder noch für ein paar Sekunden mit einem unklaren Gewissen hinterher, sieht dabei zu wie er seine Aufmerksamkeit nun dem Betreten der Universität schenkt, hinterlässt Celia wie so oft mit einem mulmigen, beinahe schon unguten Gefühl.

-

"Wir sehen uns später um 13:30 Uhr wieder",sagt Professor Fernsby an die Studenten gerichtet, wischt seine Notizen von der smaragdgrünen Tafel, dreht sich um und packt wie alle anderen seine Sachen zusammen.

Celia geht durch die Reihen nach vorne, strömt an anderen vorbei und räuspert sich, als sie wieder zum Stehen kommt.

"Mr. Fernsby."
Der Professor dreht sich wie auf Kommando um, sein faltiges, altes und hageres Gesicht sieht auf die junge Dame hinab.

"Was gibt es, Fournier?"

"Ich frage mich gerade, ob sie denn schon über die Arbeiten drübergesehen haben, die wir Ihnen am vergangenen Freitag abgaben? Und wenn ja, war es zu Ihrer Zufriedenheit?"

Ein kleines Lächeln setzt sich auf das Gesicht ihres Professors, der für sie seit Beginn des Erstsemesters kein wirkliches Vorbild ist. Seine Vorlesungen sind meist langatmig, kaum interessant gestaltet, er rezitiert ständig ältere Dichter, kennt sich nur mit alter und männlicher Literatur aus, analysiert alles und zieht die Zuhörenden leider nicht häufig in das Geschehen ein.

 𝐕𝐈𝐒𝐈𝐎𝐍𝐀𝐑𝐈𝐄𝐒 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt