V

265 18 4
                                    

L U K E

Mein Herz zog sich zusammen bei dem Anblick meines Bruders. Er lag vor mir auf einer Art Schrein. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Ein ungewöhnliches und erschütterndes Bild.

„Es ist nicht deine Schuld, Luke", meinte plötzlich Zain. „Mach dir keine Vorwürfe." Seine Stimme drang nur leise an mein Ohr, da er flüsterte.

Alle anderen waren ebenfalls still. Zain stand neben mir und hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt. Er wollte mir Trost spenden. Nur half mir seine Nähe nicht wirklich. Es machte Kodi nicht wieder lebendig. Die anderen Mitglieder aus meinem Stamm standen hinter uns und vor uns knieten unsere Eltern.  Meine Mutter hatte Kodis Hand genommen und gemeinsam mit unserem Vater nahm sie Abschied von ihrem jüngsten Sohn.

„Wie kann ich mir da bitte keine Vorwürfe machen?!", flüsterte ich aufgebracht und mit erstickter Stimme zurück. „Wäre ich nicht gewesen, dann wären wir nie in die Schlucht gegangen."

„Ich habe zugestimmt und so etwas konnte keiner ahnen", entgegnete er.

Ich schwieg. Wir wussten beide, wer dafür verantwortlich war.

Meine Eltern und mein Stamm gaben mir ebenfalls die Schuld. Zwar sagten sie es nicht, aber ihre Blicke reichten aus. Allein meine Mutter hatte mich so vorwurfsvoll und verachtend angesehen, als würde sie mir gleich an die Kehle springen.

Unser Anführer führte das Ritual zu Ende und dann durfte jeder vortreten. Auch wir. Dabei mied ich den Blick zu meinen Eltern. Ich ertrug ihren Ausdruck nicht. Meine Mutter, die weinte und mein Vater, der mit verzogenem Gesicht dastand. Zögerlich kniete ich neben Kodi, nachdem Zain gegangen war. Mein Blick schweifte über seinen Körper. Er war noch so jung. Wie konnte er jetzt schon sterben?! Auch unsere letzte Konversation hätte anders sein sollen.

Mensch Luke! Jetzt warte doch mal!

Er hatte nach mir gerufen. Er wollte, dass ich auf ihn wartete und ich rannte weiter.

Musst du halt schneller sein!

Das war alles, was ich erwidert hatte. Das waren meine letzten Worte zu ihm gewesen. Und am Ende war er schnell genug. Schnell genug, um mich zu retten. Hätte er nicht stehen bleiben können?! Dann würde er noch leben... Dann wäre ich tot, und das wäre für den Stamm nicht wirklich ein Verlust.

„Bist du fertig?", motzte mich jemand von hinten an.

Erschrocken zuckte ich zusammen und stand auf, um mich von der Menge zu entfernen. Irgendwie stand ich gerade neben mir. So, als wäre ich nicht wirklich ich.

„Hey...", nahm ich eine sanfte Stimme wahr und Sekunden später wurde ich in eine Umarmung gezogen. Normalerweise hasste ich körperliche Nähe, doch jetzt genoss ich sie. Es dauert nicht lange und ich erwiderte. Ich krallte mich förmlich an Zain und er versuchte mich zu beruhigen. Seine Hände strichen mir über meinen Rücken und ich sog seinen vertrauten Duft ein. Der Duft nach Familie. Ich musste mich einfach vergewissern, dass er noch da war.

Wir beide schwiegen. Es gab keine Worte für die Situation.

Als er sich von mir löste, sahen wir uns an. Seine blauen Augen hatten irgendwie ihr Feuer verloren. Er wollte stark wirken und keine Schwäche zeigen. Doch ich kannte ihn und ich konnte seine Empfindung genau sehen.

Plötzlich wurde ich an der Schulter nach hinten gedreht und schon landete eine Faust in meinem Gesicht. Benommen taumelte ich nach hinten und hielt mir den Kiefer. Wehe, wenn der gebrochen war! Ich hatte mich wieder gefangen und wollte gerade ebenfalls angreifen, als Zain plötzlich mit dem Rücken vor mir stand.

„Vater, was soll das?!", knurrte Zain aufgebracht.

„Es ist seine Schuld! Alles seine Schuld!", schrie unsere Mutter. Mein Vater hingegen sah mich mit Abscheu in den Augen an.

Betroffen senkte ich den Kopf. Den Schlag hatte ich ja verdient, immerhin wäre Kodi ohne mich noch am Leben. Ich konnte ihre Wut auf mich nachvollziehen.

„So ein Quatsch! Er kann nichts dafür!", verteidigte mich mein älterer Bruder, da ich es nicht konnte. Wie sollte ich auch einen Standpunkt vertreten, den ich selber nicht vertrat?

Meine Mutter ging an Zain vorbei und klatschte mir ebenfalls eine. Was sollte ich tun? Mich wehren und sie dabei möglicherweise auch noch verletzen? Garantiert nicht. Den zweiten Schlag allerdings blockte ich ab. Meine Wange war jetzt aber mit Sicherheit trotzdem rot.

„Ich wusste schon immer, dass du nur Ärger machst, aber so etwas hätte ich nicht einmal dir zugetraut! Du bist eine Schande! Eine Schande für die Familie!", meckerte meine Mutter weiter. „Ich wünschte-"

Weiter kam sie nicht, denn Zain unterbrach sie. „Mutter, es reicht!" Er zog sie von mir weg und drückte sich eng an meine Seite. Wenigstens hielt er zu mir...

„Wie kannst du ihn auch noch verteidigen?!" Meine Mutter sah zu ihrem Mann und erwartete dessen Zustimmung, doch unser Vater blieb ruhig. Entweder hatte er keine eigene Meinung, oder aber er wollte sich nicht äußern.

„Was ist hier los?" Die Stimme unseres Oberhaupts ließ uns alle überrascht umdrehen. „Warum das Geschrei?"

„Er...", meine Mutter zeigte auf mich, „Hat Kodi umgebracht!"

Unser Oberhaupt, Joachim Sullivan, zog die Augenbraue hoch. „Luke?"

„Er kann nichts dafür! Dieser Arsch hat geschossen! Luke hat damit nichts zu tun!", mischte sich Zain ein.

Wütend sah Joachim meinen Bruder an. „Ich habe Luke gefragt, Zain!" Sein Blick richtete sich auf mich. „Stimmt es, was deine Eltern sagen?"

Nach kurzem Zögern und einem entschuldigenden Blick zu Zain meinte ich schließlich, „Ja, es stimmt. Ohne mich, wäre Kodi noch hier."

Während Joachim mich entschieden ansah, flippte Zain beinahe aus. „Lukes, wie oft noch?! Du kannst nichts dafür!" Eilig wandte er sich ans Oberhaupt. „Joachim, er lügt!"

„Wieso sollte er?"

„Weil unsere Eltern es ihm einreden und er es sich selbst einredet! Ich war doch dabei! Luke hat nichts dazu beigetragen!", fauchte Zain. Meine Unschuld war ihm wichtiger als mir selbst. Sein Verhalten bewies für mich wahre Treue.

Joachim legte die Stirn in Falten. „Ich werde das noch mit den Ältesten besprechen. Bis dahin bitte ich euch, weitere Beleidigungen auszulassen." Damit zog er sich zurück und der Verlauf des darauffolgenden Gesprächs würde über meine nächsten Jahre entscheiden. Zain musste erneut eine Aussage machen und ich blieb in der Kälte zurück. Was ich hoffen sollte, war mich schleierhaft. Als die Ältesten dann eine Entscheidung getroffen hatten, wurden wir alle zusammengerufen.

„Nach einer ausgiebigen Beratung und einem Gespräch mit einem Augenzeugen, sind wir zu dem Beschluss gekommen, dass Luke Schuld am Tod seines Bruders hat", verkündete Joachim.

„Was soll Das heißen?!", fauchte mein Bruder ungehalten.

Das Oberhaupt sah ihn ernst an und dann mich. „Luke erhält eine, für uns angemessene Bestrafung. Das hat er der Aussage seines Bruders zu verdanken." Es herrschte Stille und ich wusste, auf was die meisten hier hofften. „Luke muss den Stamm verlassen."

His Green EyesOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz