2. Kapitel

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Whatever It Takes – Imagine Dragons

»Es freut mich, dich gesund hier sitzen zu sehen.«

Unruhig stellte ich mich auf Zehenspitzen und presste mein Gesicht gegen das hölzerne Gitter, bei dem Versuch, Jane in der späten Dämmerung ausfindig zu machen. Man hatte mich eingesperrt. Der Raum, in dem man mich festhielt, lag hauptsächlich unterirdisch und schien einfach in den Boden gegraben worden zu sein. Seine Wände bestanden aus Erde. Nicht sonderlich kreativ, aber durchaus effektiv, wenn es darum ging, jemandem von einem plötzlichen Fluchtversuch abzuhalten. Nur ein kleines Loch am oberen Teil der Wand ließ den Ausblick auf die große Lichtung zu, auf der wir uns befanden.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?", rief ich einem Jungen aufgebracht hinterher, der an den Gitterstäben vorbeilief. Meine Hände umklammerten das mit Seilen zusammengebundene Holz so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. „Antworte mir gefälligst!"

Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging er weiter.

„Hey!", schrie ich aus vollem Halse, „Bringt mich sofort zu ihr!"

„Ganz schön besorgt um sie, dafür, dass du dich an nichts mehr erinnern kannst", hörte ich da eine spöttische Stimme, worauf der helle Schein einer Fackel mein Gesicht erleuchtete und der Junge, der mich eben noch mit seinem Speer davon abgehalten hatte, zu Jane zu gelangen, in meinem Sichtfeld erschien. Er trug ein braunes Hemd, dessen Ärmel etwa bis zur Armbeuge gingen, und eine schwarze Hose. Seine Miene war grimmig, als er sich auf die andere Seite des Gitters hockte, die Fackel neben sich in den Boden rammte und mich misstrauisch begutachtete, worauf er die auffällig geformten Augenbrauen zusammenzog.

„Ihr habt sie schließlich auch k. o. geschlagen", rechtfertigte ich mich und hatte kurzzeitig panische Angst, ihr könnte mittlerweile noch viel Schlimmeres passiert sein. Immerhin kannten wir diese Jungen nicht und konnten demnach auch nicht sagen, was sie mit uns anstellen würden.

„Wie heißt du?", wollte der Breitschultrige wissen, ohne weiter auf mich einzugehen, und beugte sein kantiges Gesicht näher an das Gitter heran. Seine wässrig blauen Augen durchbohrten mich förmlich mit ihrem Blick, während er auf eine Antwort wartete. Statt diesem Wunsch gerecht zu werden, schwieg ich und starrte zurück. Einige Sekunden verstrichen, bevor er sie kurz zusammenkniff, worauf seine Mimik allerdings für einen winzigen Augenblick weicher wurde.

„Du kannst dich wirklich nicht mehr erinnern, was?" Sein Mundwinkel zog sich zur Andeutung eines Lächelns nach oben, als ich mit dem Kopf schüttelte.

„Sie wird versorgt", teilte er mir mit und ich atmete erleichtert auf. Sein Blick löste sich von mir, als er für einige Momente den Rufen zweier Jungen lauschte, welche, zusammen mit zahlreichen anderen, ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Er beobachtete sie stumm, während ich diese Zeit nutzte, um mich zu sammeln.

Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen. Weder bei den Jungen, die mich umstellt hatten, noch hatte ich ihn sonst irgendwo erblicken können.

„Solltest du nicht bei ihnen sein und helfen?", fragte ich den Jungen vor mir und lenkte so seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er ließ sich ins Gras sinken und lehnte sich mit der Seite an die Gitterstäbe, während er einen Grashalm ausriss, ihn zwischen zwei Fingern hin- und herdrehte und ihn dann fallen ließ.

„Weshalb interessiert dich das?", wollte er skeptisch wissen und schnickte eine Ameise, die auf seine Hand gekrabbelt war, achtlos zur Seite.

Ich zuckte mit den Achseln und schwieg. Auf solche dummen Fragen musste ich nicht antworten – und das war wahrscheinlich auch besser so, bevor ich sein Misstrauen durch irgendeine falsch formulierte Aussage noch verstärkte.

„Und wie heißt du?", fragte ich stattdessen, um ihn davon abzubringen, mir noch weitere Fragen zu stellen, auf die ich nicht antworten wollte. „Oder kannst du dich daran auch nicht mehr erinnern?" Frech grinste ich ihn an, während er die Augenbrauen in die Höhe zog und hörbar Luft einsog. Das Lachen gefror mir augenblicklich.

Dann jedoch stieß er ein belustigtes Schnauben aus und ich entspannte mich allmählich wieder.

„Gally", sagte er schließlich und ich war erleichtert, dass er nicht erneut Fragen stellte. Stattdessen war er für eine Weile stumm, sodass ich das Vogelgezwitscher in den Bäumen hören konnte. Es klang seltsam friedlich dafür, dass ich mich zusammen mit Jane in Gefangenschaft einer Gruppe wildfremder Jungen befand.

„Warum wart ihr im Labyrinth?", hakte er dann doch wieder nach und neigte den Kopf zu mir. „Warum seid ihr nicht durch die Box gekommen wie alle anderen?"

„Wir sind dort aufgewacht", gab ich nur zurück und ließ den restlichen Teil seiner Frage aus. Ich konnte ihm darauf ohnehin keine Antwort geben. „Allerdings ist es sehr eintönig, ein Gespräch über die Person zu führen, die ihre Erinnerung verloren hat", merkte ich dann an. Er warf mir einen bösen Blick zu.

„Warum bist du nicht bei den anderen?", fragte ich noch einmal.

„Weil irgendjemand darauf aufpassen muss, dass du nicht auf dumme Gedanken kommst, bis ...", er brach ab, weil aus der Ferne erneut Rufe zu hören waren, welche dieses Mal an ihn gerichtet schienen. Sein Kopf fuhr herum und er schaute auf etwas, oder jemanden, den ich durch meine begrenzte Sicht im spärlichen Licht der späten Abenddämmerung und dem schlechten Ausblick durch das Gitter nicht sehen konnte.

„Wenn man vom Teufel spricht", seufzte er, sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf und griff an seinen Gürtel, um ein langes, scharfes Messer hervorzuholen. Dann öffnete er das Gitter. „Nach dir."

Augenverdrehend kletterte ich aus dem dunklen Loch heraus und sah mich dann orientierungslos um. Gally hatte sich währenddessen die Fackel gegriffen, die er vor meinem Gefängnis aufgestellt hatte und nickte in Richtung einer größeren Hütte aus Holz. Dem Messer in seiner Hand einen abfälligen Blick schenkend, machte ich einige Schritte in die angewiesene Richtung.

„Nimm's nicht persönlich", meinte er, doch sein Tonfall ließ nicht deuten, wie ernst es ihm mit dieser Aussage tatsächlich war. Mit seiner Klinge im Rücken marschierte ich also schnurstracks auf die Hütte zu. Als ich ihr näher kam, konnte ich erkennen, dass sie aus vielen aneinander gebundenen Ästen bestand. Durch die winzigen Lücken flackerte ein Feuerschein. Mittlerweile war es komplett dunkel geworden und man sah, wie sich überall auf der Mitte Fackeln enzündeten. Wie kleine Glühwürmchen tanzten sie in den Händen der Jungen umher.

Als Gally die Tür mit der Schulter aufstieß, löste ich meinen Blick von den Lichtern. Schwer schluckend trat ein.

Das erste, was ich sah, als ich die Türschwelle überschritt, war Jane, die mit unsicher hochgezogenen Schultern und nervös auf ihrer Lippe kauend in der Mitte des kreisrunden Raumes stand. Sie sah nicht aus, als würde sie sich wohlfühlen, sonst wirkte sie allerdings unverletzt. Ihre Augen weiteten sich, als ich zu ihr hastete.

„Maggie, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!", rief sie und eilte zu mir, um mich in eine stürmische Umarmung zu ziehen.

„Hübscher Name", hörte ich Gally hinter mir spotten und schloss resigniert die Augen. Er würde nun erst recht davon ausgehen, dass ich ihn angelogen hatte.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen", meinte ich zu Jane und strich ihr beruhigend über den Rücken. Dann wurde ich jedoch auf eine Bewegung aufmerksam und bemerkte jetzt erst, dass wir nicht allein waren. Einige Jungen standen hinter mir, ihre Rücken der Tür zugewandt. Drei andere befanden sich nur wenige Meter entfernt vor mir. Einer von ihnen war dunkelhäutig. Den zweiten identifizierte ich als den Blondschopf, der Jane mit seinem Spaten ohnmächtig geschlagen hatte.

Ich hielt für einen Moment die Luft an. Neben dem Blonden, lässig an die Wand gelehnt und mit verschränkten Armen, stand ein schwarzhaariger, asiatisch aussehender Junge. Auf seiner Stirn hatten sich angespannte Falten gebildet und er kniff überlegend die Augen zusammen. Er sah aus, als würde er, wie vermutlich jeder in diesem Raum, versuchen zu verstehen, wieso genau wir heute als die einzigen beiden Mädchen aus dem Labyrinth heraus direkt zu einer Gruppe Jungen gekommen waren.

Ich hatte ihn gefunden.

The WCKD Game • Running Nights || minho; tmrWhere stories live. Discover now