1 - Scherben aus Erinnerungen

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Ein kleines Mädchen mit roten Locken und grünen Augen fragte mich einst, welche Rolle Erinnerungen in meinem Leben spielen würden. Damals konnte ich ihr keine Antwort geben, weil ich es schlichtweg nicht wusste. Ich habe mich nie mit diesem Thema auseinandergesetzt, denn es stand nie im Mittelpunkt meiner Interessen. Aber würde sie mich heute erneut fragen, welche Bedeutung Erinnerungen für mich haben, dann könnte ich ihr endlich antworten. Erinnerungen geben mir in schweren Zeiten Halt. Sie erinnern mich an die Vergangenheit und an mein Leben. Erinnerungen machen mich stärker und prägen meine Zukunft. Sie spiegeln meine Geschichte wider und zeigen, wer ich wirklich bin. Jeder Mensch trägt Erinnerungen in seinem Herzen und wird irgendwann selber zu einer. Denn nichts bleibt für immer.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und streiche mit den Fingerkuppen über das gewellte Papier. Meine Stirn ist gerunzelt und mein Blick von Sehnsucht und Schmerz verschleiert.

Alles wäre so viel einfacher, wenn ich für einen Moment meine Gedanken abschalten und stattdessen auf mein Herz hören könnte, doch letztendlich sind es immer meine Gedanken, die wie Gift über meine Lippen strömen und Einschnitte in den Herzen der Menschen hinterlassen, die mir eigentlich am wichtigsten sind.

„Sechszehn Jahre", murmele ich. Wie von selbst wandern meine Augen zu der grauen Kuppel über meinem Kopf empor. Kleine, funkelnde Lichter erhellen den Horizont und spiegeln sich als glänzendes Meer in meinen Pupillen wider.

Ob sie wohl dort oben ist? Auf einem dieser vielen Sterne?

Ich kann es nicht verhindern, dass sich die ersten Glasperlen aus meinen Augenwinkeln lösen und über meine Wangen kullern. Ich hielt es für sinnvoll, schneller als die Zeit zu sein, doch meine Vergangenheit hat mich wieder eingeholt. Wenn ich nicht endlich lerne, loszulassen, werde ich irgendwann an dem Schmerz ersticken.

„Lucia", hauche ich wie in Trance, während meine Finger vorsichtig die Konturen ihres Gesichtes nachzeichnen. Die moosgrünen Augen, die meinen so ähnlichsehen, strahlen mir entgegen und brennen sich auf meiner Seele ein. Ich wünschte, sie wäre keine Erinnerung. Tag für Tag vergesse ich sie ein kleines Stückchen mehr.

„Ich vermisse dich." Eine Träne tropft auf das Foto in meiner Hand. Ich kannte das Mädchen, das mein Ebenbild darstellt, nicht lange und dennoch umhüllt mich jedes Mal diese Leere, wenn ich an sie denke.

An meine Zwillingsschwester Lucia, die bereits nach wenigen Stunden den Kampf um das Überleben aufgeben musste.

Meine Eltern haben schon häufig versucht, mir einzureden, dass mich keinerlei Schuld betrifft, aber warum fühle ich mich dann so verdammt schuldig? Es hat Lucia getroffen und nicht mich. Der Tod meiner Schwester hat gleichzeitig mein Leben bedeutet. Es klingt hart, aber es ist so.

Die Ärzte dachten, dass wir es beide nicht schaffen würden. Demnach gleicht es also einem Wunder, dass ich überlebt habe. „Unsere Kämpferin", sagen Mama und Papa immer.

Ich wünschte, wir wären nicht drei Wochen zu früh gekommen, denn dann würde Lucia vielleicht noch leben.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ein eisiger Windstoß an dem Foto von Lucia zerrt. Ich habe keine Chance mehr, es festzuhalten, und so trägt der Wind das letzte Andenken an meine Zwillingsschwester mit sich hinfort.

Ich darf das Foto nicht verlieren! Es ist alles, was mir von meiner Schwester geblieben ist!

Adrenalin strömt durch meine Venen, als ich über den Waldweg laufe und mich bemühe, das Foto zu fassen zu bekommen. Es wird immer kleiner, die Entfernung hingegen immer größer. Wenn ich Lucia jetzt verliere, dann verliere ich mich selbst.

„Hey, pass auf!" Ehe ich den Sinn dieser Worte erfassen kann, reißt mich jemand am Arm zurück. Ich zucke erschrocken zusammen und starre dem hupenden Auto hinter her. „Wie gut, dass ich hübsche Mädchen nicht einfach so auf die Straße laufen lasse", amüsiert sich mein Retter neben mir. Da ich seinen Spruch nicht besonders witzig finde und ihm das auch sagen möchte, drehe ich mich zu ihm.

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